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Kleine Zeitreise gefällig? Kein Problem: „Pentiment“ katapultiert euch um 500 Jahre zurück ins frühneuzeitliche Bayern. Mit viel Liebe zum (historischen) Detail wird der Alltag eines beschaulichen Klosterstädtchens dargestellt. Langweilig? Keineswegs! Ein Mörder treibt dort sein Unwesen und viele dunkle Geheimnisse harren ihrer Aufdeckung. Doch Vorsicht – alles hat seine Konsequenzen!

Von Othmar F.C. Hofer

Die Kunst, das Leben und der Tod – die Handlung 
Im Spiel schlüpfen wir in die Rolle von Andreas, einem jungen Maler aus Nürnberg, den es Anfang des 16. Jahrhunderts in die kleine Gemeinde Tassing am Fuß der Alpen verschlägt. Auf einem Hügel über der Kleinstadt befindet sich das Kloster Kiersau, in dessen Skriptorium die Mönche trotz der Konkurrenz durch den Buchdruck immer noch Manuskripte in mühsamer Kleinarbeit mit Feder und Tinte herstellen. Andreas soll die Brüder in der Schreibwerkstatt beim Erstellen von Illustrationen unterstützen, weshalb ihn der Abt extra aus der großen Stadt herkommen ließ. Nebenbei werkelt Andreas, auf den in Nürnberg schon eine arrangierte Ehe wartet, an seinem Meisterstück.  

Unter den strengen Augen des Priors Ferenc aus Ungarn geht die Arbeit ganz gut von der Hand, zumal Andreas im ergrauten Bruder Piero bald einen Freund und sachkundigen Berater findet. Alles scheint den gewohnten Lauf zu nehmen, doch allmählich tritt Stück für Stück zutage, wie es unter der Oberfläche brodelt. Gedruckte Werke stellen eine viel kostengünstigere Alternative zu Handschriften dar, weswegen das Kloster, das nebenbei noch ein Nonnenkonvent hinter seinen Mauern beherbergt, immer mehr Auftraggeber und somit dringend benötigte Einnahmen verliert. Abt Gernot ist daher bemüht, die allmählich existenzgefährdenden finanziellen Verluste zu kompensieren. Er übt in seiner Funktion als Oberhaupt der geistlichen Gemeinschaft auch die Grundherrschaft über Tassing aus und erhöht die von der lokalen Bauernschaft zu entrichtenden Abgaben. Hierdurch kommt das einfache Volk, dem man im Rahmen des herrschaftlichen Machtausbaus beinah überall im Reich althergebrachte, wichtige Nutzungsrechte an Wäldern und Wiesen entzogen hat, noch mehr unter Druck. Andreas erfährt dies aus nächster Nähe, da er bei der gleichermaßen armen wie herzlichen Bauersfamilie Gertner untergebracht ist und ihren täglichen Kampf um die Existenzsicherung hautnah miterlebt. Kein Wunder, dass Familienoberhaupt Peter alles andere als gut auf die Abtei zu sprechen ist.  Die sich verbreitenden Ideen eines gewissen Martin Luther tragen ebenso wenig zur allgemeinen Entspannung bei. 
 
Überhaupt scheint es im Kloster Kiersau in mehrerlei Hinsicht weitaus weniger katholisch zuzugehen, als es der pedantische Abt gern hätte. Mitten hinein in diese angespannte Atmosphäre platzt Baron Lorenz von Rothvogel. Der auf der Durchreise befindliche Adlige ist gebildet und kunstsinnig, weshalb er zu den wichtigsten Gönnern und Auftraggebern der Abtei zählt. Er scheint allerdings nicht nur Michelangelo und Co., sondern auch Machiavelli genau studiert zu haben und schert sich herzlich wenig um religiöse oder moralische Konventionen. Urplötzlich wird die angespannte Ruhe durch einen Mord gestört. Auf einmal steht nicht nur das weitere Schicksal des Klosters samt Skriptorium, sondern zudem das Leben eines Unschuldigen auf dem Spiel. Andreas bleibt keine andere Wahl, als auf eigene Faust den diversen Hinweisen nachzugehen und tief in die finsteren Abgründe hinter den freundlichen Fassaden zu blicken. Wird der Maler die damit verbundenen Gefahren überstehen und Erfolg haben? Oder wird Andreas durch seine Entscheidungen alles nur noch schlimmer machen, sodass am Ende nichts als Reue übrigbleibt? Sicher ist nur, dass nicht alle in Tassing wieder heil aus dem durch den Mord in Gang gesetzten Mahlstrom der Ereignisse auftauchen werden… 
 
Wissen ist Macht – das Gameplay 
Gleich in den ersten Minuten fordert das Point-and-Klick-Adventure dazu auf, die Charakterzüge des jungen Künstlers und den Ort seiner Wanderjahre festzulegen. Hier stehen solch gegensätzliche Eigenschaften wie etwa „Bücherwurm“ oder aber „Hedonist“ und Städte wie Basel oder Florenz zur Verfügung.  Da Andreas aus einer begüterten Bürgerfamilie stammt, durfte er einige Zeit an der Universität verbringen, was sich in einer ebenso wählbaren Bildungskarriere niederschlägt. Darüber hinaus lassen sich zusätzlich noch Interessensfelder wie Rhetorik oder Okkultismus bestimmen, welche den Protagonisten im weiteren Spielverlauf gewisse Vorteile gewähren können. Die Charakteranpassung geschieht en passant während Gesprächen mit einigen der vielen interessanten Figuren im Spiel und beschränkt sich nicht nur auf die Anfangsphase.  Es lohnt sich aus zweierlei Gründen, etwas Zeit und Überlegung in die Charaktererstellung zu investieren. Einerseits können die gewählten „Perks“ einzigartige Optionen bei den schwierigen Handlungsentscheidungen ermöglichen und nicht selten fungieren sie in brenzligen Situationen als Zünglein an der Waage. Andererseits beeinflussen die Charakterattribute auch die Weltsicht unseres Protagonisten, was häufig wesentlichen Einfluss auf den Verlauf der zahlreichen Gespräche haben kann. Auf diese Weise werden gleichzeitig Immersionserlebnis und Wiederspielwert gesteigert, da die verschiedenen Wesenszüge zu unterschiedlichen Spielverläufen führen können. Praktischerweise stellen die durch die Charaktereigenschaften und speziellen Fähigkeiten bedingten Repliken nur eine oder zwei von mehreren Antwortmöglichkeiten dar, welche zudem durch das Kennzeichen des jeweils ausschlaggebenden Attributs gekennzeichnet sind. 
 
Die am Anfang getroffenen Entscheidungen müssen somit nicht zwangsläufig den ganzen Rest des Spiels bestimmen. Es bleibt jedem und jeder selbst überlassen, ob der Künstler nur einen Bibelvers zitiert oder sein übergriffiges Gegenüber geradeheraus als Arsch beschimpft. Einmal gesetzte Aktionen aber, gleichgültig ob rein verbal oder körperlich, werfen häufig sehr wohl einen weiten Schatten. Ein scharfzüngiger Kommentar in einem Streitgespräch führt beispielsweise mitunter dazu, dass der gekränkte Mönch einem später seine Hilfe verweigert. An anderer Stelle muss entschieden werden, ob Andreas seine begrenzte Zeit lieber mit der heimlichen Beschattung eines Verdächtigen oder mit den spinnenden und dabei über so manch interessante Begebenheit tratschenden Bauersfrauen verbringt. Die gesammelten Informationen werden in einem Notizbuch festgehalten, welches ein Personenverzeichnis, ein Glossar, eine Missionsliste und eine Karte enthält. Motorische Fähigkeiten sind bei „Pentiment“ genrebedingt kaum gefordert, denn abgesehen von einigen Minispielen beim Hufeisenschmieden oder Holzzerkleinern navigiert der Spieler bzw. die Spielerin hauptsächlich mittels Mausklick oder Tastendruck durch Landschaft und Gespräche. Während die Hände also viel Ruhe haben, läuft das Hirn hingegen auf Hochtouren, da verschiedene Rätsel und Hinweise Kombinationsgabe sowie logisches Denkvermögen fordern. Neben nüchterner Rationalität sind aber zudem situatives Einfühlungsvermögen und ethisches Empfinden im Umgang mit moralischen Dilemmata gefragt.  
 
Vita brevis, ars longa 
Auf optischer Ebene kann „Pentiment“ genauso bestechen wie auf inhaltlicher. Die Entwickler von Obsidian Entertainment bemühten sich, ein authentisches Bild von Bayern am Beginn der Neuzeit zu zeichnen, wobei sie sich stark an historischen Kunstwerken orientierten. Die Umweltgestaltung des Spiels lässt sich wahrhaft als holzschnittartig bezeichnen, jedoch im positivsten Sinne. Seien es die im Stil spätmittelalterlicher Buchillustrationen gehaltenen Tiere (von denen übrigens viele gestreichelt werden können), die zum Verweilen einladenden Blumen am Wegesrand oder die herzergreifend niedlichen Kinder – dem ohne jeden Kitsch auskommenden Bann des Rollenspieles lässt sich nur schwer widerstehen. Der Detailreichtum geht so weit, dass die verschiedenen Figuren je nach ihrer sozialen Herkunft in verschiedenen Schrifttypen kommunizieren. Kleriker etwa benutzen in den comichaften Sprechblasen eine noch mittelalterlich gemahnende, kunstvolle Textura, während sich Bauersleute mit einfacheren Rotunda-Buchstaben begnügen. Selbst die Emotionen der gerade sprechenden Person kommen durch verschiedene Farben und Tintenkleckse zum Ausdruck. Auf diese Weise kommt ein lebendiges Bild der Umbruchszeit zwischen 1500 und 1550 zustande, welche weitaus bunter war, als es das schon von den Humanisten der Renaissance geprägte Bild vom finsteren Mittelalter suggeriert.  
Doch wo Licht ist, ist auch Schatten und ebendiese dunklen Seiten der Geschichte werden nicht ausgespart. Aufmerksame Zeitgenossen und Zeitgenießerinnen werden es vermutlich schon geahnt haben: Hier wird starker Tobak verhandelt. Obwohl sich die Anzahl an Szenen direkter Gewaltausübung in Grenzen hält, sollten Leute, die schon beim sonntagabendlichen Tatort vor Entsetzen aus den Hauspatschen kippen, vielleicht lieber bei „Animal Crossing“ oder „Mario Party“ bleiben. Genau in der Bereitschaft, auch beunruhigende Themen aufzugreifen, liegt aber eine weitere große Stärke des Videospiels aus dem Hause Obsidian, da es so einen gleichermaßen kritischen wie kreativen Blick auf historische Geschlechterrollen oder Machtverhältnisse werfen kann.  
 
Mittelalterliches Minenfeld 
In Sachen Identitätspolitik kann sich „Pentiment“ zwar nicht mit einem reflektierten Meisterwerk wie „Battlefield 1“ messen, aber zumindest tappt es nicht in dieselbe Falle wie „Kingdom Come: Deliverance“, welches die böhmische Gesellschaft zu Beginn des 15. Jahrhunderts einfach ganz ohne People of Color auskommen ließ. Unsere virtuelle Mördersuche beschreitet geschickt den Mittelweg zwischen beiden repräsentationstechnischen Extrempolen. In einer Kapelle des Klosters wird zum Beispiel der heilige Mauritius verehrt, welcher aufgrund seiner kolportierten afrikanischen Herkunft schon im Mittelalter häufig als dunkelhäutiger Ritter dargestellt wurde. Dies veranschaulichen etwa Kunstschätze wie die Erasmus-Mauritius-Tafel in der Alten Pinakothek oder die Mauritius-Statue im gleichnamigen Magdeburger Dom.  

An anderer Stelle begegnet Andreas sogar einem äthiopischen Mönch in Kiersau, was mit Blick auf die räumliche Distanz und die Spannungen der katholischen Kirche mit den weiter östlichen Konfessionen des Christentums auf den ersten Blick doch sehr unrealistisch erscheinen mag. Eine kurze Nachfrage am Fachbereich für Kirchengeschichte offenbarte jedoch erstaunliches. Beim Konzil von Ferrara und Florenz zwischen 1431 und 1445, welches zur Überwindung der Spaltung zwischen der lateinischen West- und der griechischen Ostkirche einberufen worden war, erschien auch eine Abordnung der äthiopischen Kirche. Die Anwesenheit eines Geistlichen aus dem Reich des Negus2, der übrigens für einen faszinierenden und wunderbaren Beitrag zum Spielerlebnis sorgt,  im frühneuzeitlichen Bayern erscheint somit zwar immer noch unwahrscheinlich, aber dennoch möglich. Anstatt einfach willkürlich den Melaninspiegel einiger Figuren anzuheben oder aber den sensiblen Bereich völlig zu ignorieren, hat Obsidian sich also die Mühe gemacht, genauer nachzuforschen – diese Entwickler haben wahrlich ihre Hausaufgaben erledigt. 
 
Unterm (Reue-) Strich – das Fazit 
Das Wort „Pentiment“ ist die eingedeutschte Variante eines italienischen Fachbegriffs aus der Malerei. Es bezeichnet die Veränderungen an einem Bild, welche der Künstler oder die Künstlerin während der Schaffensphase vornimmt. Diese Umänderungsspuren werden auf Ölgemälden als subtile Linien sichtbar und auf Deutsch nennt man sie auch „Reuestriche“. Obwohl das Spiel also schon die Reue gleichsam im Namen trägt, werden die allerwenigsten Käuferinnen und Käufer ihrem Geld nachtrauern. Sowohl für die Fans von Games mit historischem Hintergrund als auch für die Freunde sowie Freundinnen kniffliger Krimispannung stellt „Pentiment“ eine absolute Goldempfehlung dar. 
 
Der durch geschickte Komposition, durchdachtes Charakterdesign und bunten Detailreichtum erzeugte immersive Sog wird jedoch selbst die Leute an den Bildschirm fesseln, die sonst mehr direkte Action oder modernere Settings bevorzugen. Die Spieldauer liegt bei ca. 15 bis 20 Stunden. Aufgrund der weitverzweigten Handlungsstränge ist auf jeden Fall ein hoher Wiederspielwert gegeben. Für ungefähr 20 Euro ist „Pentiment“ auf Steam oder im X-Box-Shop zu haben. Als Plattform eignen sich PC, Xbox Series X|S sowie die Xbox One.  Und noch etwas: Wer beim Eintritt in die akademische Arcade den Hauptfokus der Charakterentwicklung auf die Fähigkeiten „Germanistik“ oder „Geschichte“ gelegt hat, wird wohl ebenso sicher seine oder ihre Freude mit dem Zeig-und-Klick-Abenteuer haben. Wer weiß, vielleicht lassen sich dafür sogar ein oder zwei ECTS herausschinden? Es hieß doch, die Uni müsse digitaler werden. Also: Benehmt euch nicht wie ein ängstlicher Gugelfranz3 und stürzt euch ins Abenteuer! 
 
Hilfreiche Links: 
Frühneuhochdeutsches Wörterbuch: https://fwb-online.de 
Das eigens von Fans erstellte Wiki zum Spiel: https://pentiment.fandom.com/wiki/Pentiment_Wiki 
Der offizielle Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=OfYryKWkNfw 
 
Univ.-Prof. Dr. Dietmar W. Winkler vom Fachbereich Patristik und Kirchengeschichte gebührt herzlicher Dank für seine umfangreiche Auskunft! 

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