Im Ein Ani Li, Mi Li?
„Vielleicht wird es langsam Zeit, dein Tattoo zu verdecken“, bat ich L. am 11. Oktober. Sie ist eine meiner engsten Freundinnen hier. Ihr Tattoo, das sie eindeutig als Jüdin identifiziert, befindet sich sichtbar auf ihrer Handaußenfläche. „Ach, kein Problem – das mache ich eh schon seit gestern. Letztens hatte ich eine sau gruselige Situation, wo so Männer auf mein Davidstern-Tattoo gestarrt haben und miteinander getuschelt haben. Das war schon echt komisch, aber immerhin ist nix passiert“, erzählt sie: „Mal schauen, wie lange es braucht, bis wir alle komplett gef*ckt sind!“, lacht sie plötzlich weiter. Auch ich lache. „Das sind wir doch schon lange, jetzt wird’s nur langsam ernst“, denke ich mir. An diesem Tag nehme auch ich meinen Magen David ab. Seither fühle ich mich ungewöhnlich nackt und hilflos. Ich weiß, dass das in meinem Kopf ist und ich theoretisch so sicherer bin, aber ich habe das Gefühl, einen Teil meiner Identität damit ablegen zu müssen, der mir normalerweise Kraft und Sicherheit gibt. Davon habe ich sowieso nicht genug im Moment, und jetzt symbolisch noch weniger.
„An der Uni haben mich alle gefragt, was das mit dem Pflaster soll. Die wissen doch eh, was da drunter ist. Also habe ich denen das halt erklärt. Dann haben die alle voll komisch geguckt“, witzelt sie weiter. L. studiert auch in Salzburg; in einem kreativen Bereich, in dem Leute – ich sage es mal so – auch in meiner Nähe schon Holocaust“witze“ geäußert haben, mich fetischisiert haben, weil ich Jüdin bin. Vor den Augen meines israelisch-jüdischen Partners. Kein Milieu, in dem ich heute gerne wäre. Gleichzeitig zeigt sie uns Bilder von ihrem Bruder, der in Deutschland angegriffen wurde. Er ist voller Blut. Eigentlich kann und will ich das gar nicht sehen. Ich habe genug Bilder des Schreckens gesehen. Gesagt hat er natürlich, außer ihr, niemandem was davon. Die Familie macht sich Sorgen, institutionell ist aber in Deutschland kein Rückhalt zu erwarten. Kein Tag vergeht, an dem ich nicht daran denke, in was für einer Situation sie sich befindet und was das für Risiken birgt. Immerhin schrieb ihr auch eine Lehrende, dass sie an sie denke und für sie da sei – es ist ein kleiner Funke Hoffnung zu wissen, auf wen man sich in solchen Tagen verlassen kann. Die konstante Unsicherheit ist eine Qual.
Als ich nach Hause komme, eröffnete T. bereits eine WhatsApp-Gruppe für Israelis, die in Salzburg festsitzen und Hilfe benötigen. Es ist eine von mehreren Gruppen in den verschiedensten österreichischen Städten, in denen es niemand in der Politik geschafft hat, Anlaufstellen für Kriegsbetroffene zu schaffen, die nicht nach Hause zurückkehren können. Vor lauter Symbolpolitik hat niemand an konkrete Hilfe gedacht. Wir sind eine gar nicht mehr so kleine Gruppe. Ein paar Anfragen für Leute, die temporär mit ihren Familien Unterkunft brauchen, weil sie nicht nach Hause fliegen können, trudeln ein. Manche brauchen warme Kleidung, Tipps, wie sie an Flüge oder gar Visa für einen längeren Aufenthalt kommen, wollen nicht alleine sein, wissen nicht, wie sie mit ihren Kindern über das alles reden sollen. Alle sind traumatisiert, kaputt und fühlen sich machtlos, brauchen dringend psychologische Betreuung. Wie wir alle. Die hebräischen, deutschen und englischen Helplines sind nicht genug. Aber alle versuchen, füreinander da zu sein, sich selbst handlungsfähig zu machen und sich nicht entmutigen zu lassen.
Am 12. Oktober wird die Israelflagge, die weniger als 24 Stunden am Mirabellplatz hing, das erste Mal heruntergerissen. Traurige Posts auf Instagram von Politiker*innen, wie schlimm das nicht sei. Es ist scheinheilig und macht mich, wie auch meine Freund*innen, wütend. In der Landesregierung sitzen Konservative und Rechtsextreme. Diese Menschen vertreten nicht nur nicht unsere Interessen, sondern stellen eine aktive Gefahr für uns dar. Ginge es irgendjemandem wirklich um den Schutz von Jüdinnen*Juden, würden diese Menschen nicht in dieser Position sitzen. Und ja, natürlich ist es traurig, dass die Flagge heruntergerissen wurde. Viel trauriger ist, dass bis heute keine unabhängigen Anlaufstellen für Realbetroffene des Krieges, Israelis, Jüdinnen*Juden oder Palästinenser*innen, die in Salzburg leben, geschaffen wurden. Sobald Hilfe einen Preis hat, liegt ihnen wohl doch nicht mehr so viel daran.
Gleichzeitig melden sich Kolleg*innen aus Wien, Leute würden dort Wohnungen mit Mezuzot fotografieren. Wozu, fragt man sich? Man kann es erahnen. Bei Freunden wird mehrmals versucht, einzubrechen. Ich frage euch: Was ist in solchen Momenten gruseliger: der Weg nach draußen oder das, was einen vor der eigenen Haustür, vielleicht sogar in den eigenen vier Wänden erwarten könnte, wenn man wieder nach Hause kommt? Es ist Psychoterror, es ist psychische antisemitische Gewalt. Es sind Einschüchterungsversuche, die, so sehr man sich dagegen wehren will, funktionieren. Was ist mit Familien mit kleinen Kindern? Was ist, wenn jemand dem Kind etwas antut, wenn es kurz alleine zuhause ist? Es entführt, ihm jemand auflauert? Folgt mir jemand? Wer weiß, wo ich wohne? Wo ich studiere, arbeite, meine Kinder in die Schule gehen? Wie kann ich mich und mein Umfeld schützen?
Jüdischen Religionsunterricht gibt es übrigens zu diesem Zeitpunkt vielerorts, auch in Teilen Deutschlands, schon lange nicht mehr. Jüdische Schulen haben dort schon seit Wochen erhöhtes Sicherheitsaufgebot, teilweise auch temporär geschlossen. Auch das macht etwas. Mit uns Erwachsenen, aber auch mit den kleinen Kindern, die die Schule gleichzeitig auch nur als einen Ort kennen, den man vor terroristischer Gewalt schützen muss. Weil Sicherheit in Österreich bis heute für uns Jüdinnen*Juden nicht garantiert werden kann.
Sicher ist sicher
Es ist der 14. Oktober. Ich treffe meine Freundinnen – wir gehen gemeinsam Pfefferspray kaufen und ich erkläre ihnen, wie sie Angreifer, wenn sie ihnen zu nahe kommen sollten, abwehren können. Sicher ist sicher. Währenddessen die Nachrichten von Kolleg*innen aus Berlin: Dort werden ihre Häuser mit Davidsternen markiert. „Es ist wie in den Dreißigern“, meldet sich eine Bekannte: „Noch nie hatte ich so Angst in dieser Stadt“. Auch ich mache mir zunehmend Sorgen um meine Sicherheit in Salzburg. Die Stadt ist zwar vergleichsweise ruhig, das muss aber nichts heißen. T. und ich sind vorsichtig, wenn wir außerhalb unseres Hauses miteinander Hebräisch sprechen. Die meisten Leute erkennen den Klang wahrscheinlich nicht, aber was, wenn es die falsche Person zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort hört? Sollten wir unsere Mezuzah zuhause abmontieren? Es würde mir wehtun, sie abzunehmen, aber ein Angriff durch einen Antisemiten tut vielleicht mehr weh.
Auch T. studiert übrigens. Genauso wie L. studiert er in einem kreativeren Bereich. Er ist Israeli. Seine politische Orientierung ist, wie meine und wie die aller unserer Freund*innen, links. Nicht, dass es Antisemiten darum ginge, aber es hat einen großen Einfluss auf sein und auch auf mein Leben. Wir demonstrierten letztens noch mit mehr als hunderttausend Menschen in Tel Aviv gegen die Justiz“reform“. Zuvor schon war die politische Situation in Israel etwas, was uns Sorgen gemacht hat. Mit dem Krieg fühlt es sich im Moment überhaupt nicht mehr wie ein sicherer Hafen an. Selbiges gilt aber auch für Österreich.
Zuhause folgt ein großer familiärer Konflikt übers Telefon. Es geht um den Krieg, den Zionismus, unser Überleben. Die Situation mit der Familie in Israel eskaliert, gerade jetzt, wo man so dringend jede Unterstützung benötigt. Kontakt gibt es seither mit manchen gar nicht mehr, mit anderen nur sporadisch und es ist nie gut. Gleichzeitig kommen T. Sorgen um seine Karriere. „Was, wenn ich was auf Facebook zu der Situation sage? Ich will was sagen, es kann doch nicht sein, dass wir hier zusehen müssen, wie man uns alle umbringt! Aber was ist, wenn jemand mich später nicht einstellt, weil ich etwas zu dieser Situation gesagt habe, was ihm nicht gefällt?“ Die Angst vor dem Boykott ist real. BDS hatte doch zuvor schon an Kraft gewonnen. Dass er links ist, ist doch Leuten, die Judenboykott propagieren, egal. Das hat die antisemitische Organisation immer und immer wieder bewiesen. Auch die Universität Salzburg hat sich mit dem ein oder anderen Skandal in dieser Richtung die Finger sehr schmutzig und uns das Leben an der Universität sehr schwer gemacht. Die Angst vor dem Karriereaus, bevor die Karriere überhaupt so richtig beginnt, kommt zusätzlich zu den bereits bestehenden Sorgen um das Leben der eigenen Familie und die Sicherheit von uns hier in Salzburg. Irgendwie scheint diese Sorge aber im Vergleich zur existenziellen Angst um unser Leben im Moment dennoch so klein.
Plötzlich beginnt die Gewalt endgültig international zu eskalieren. Am 18. Oktober gab es einen Brandanschlag auf die Synagoge der Kahal Adass Jisroel in Berlin. Ich erkundige mich, ob es meinen Kolleg*innen, die dort Mitglieder sind, gut geht. Gleichzeitig werden auf antiisraelischen Demonstrationen in Deutschland, Österreich, den USA und zahlreichen anderen Ländern die Gewaltausschreitungen immer größer und aggressiver. Mittlerweile gibt es für größere Städte ganze Pläne, erstellt von den jüdischen Gemeinden und anderen jüdischen Organisationen, darüber, welche Orte jüdische Menschen zu welcher Uhrzeit aus Sicherheitsgründen meiden sollen. Dass das ein Teil unserer Realität ist, hat aber schon zu Coronazeiten, als rechtsextreme Verschwörungsideologen uns aktiv bedroht haben, niemanden interessiert. Nur einen Tag nach diesem Anschlag wurde eine historische Synagoge in Tunesien zerstört. ”Wegen Israel“. Dass das zu diesem Zeitpunkt noch nicht die einzige Schreckensbotschaft für die ohnehin bereits winzige jüdische Gemeinschaft, die nach all dem Terror, den sie dort erleiden mussten, noch in Tunesien lebt, sein soll, wussten wir noch nicht. Tunesien debattiert nur ein paar Tage später, sämtliche Verbindungen nach Israel zu kriminalisieren. Für die noch etwa tausend verbleibenden Jüdinnen*Juden, die sich derzeit noch dort befinden, könnte das ihre endgültige Vertreibung bedeuten. Was mit den anderen 104.000 Jüdinnen*Juden, die bis 1948 noch in Tunesien lebten, passiert ist, dürft ihr selbst googeln.
Nach einigen Tagen der üblichen antisemitischen Gewaltausschreitungen droht am 25. Oktober die Hamas mit der Veröffentlichung von Exekutionsvideos der Geiseln auf Social Media. Das einzige Problem, was Leute damit zu haben scheinen, ist, dass es auf Instagram und TikTok passieren soll. Zahlreiche Debatten darüber, ob die Livestreamfunktion von den Plattformen nicht temporär ausgesetzt werden soll. „Was ist, wenn das Kinder sehen?“, sorgen sich so manche Menschen auf Social Media. – Ich weiß nicht. Aber was ist, wenn sie Kinder vor deinen Augen exekutieren und deine einzige Frage ist, ob das jetzt jugendfreier Content ist oder nicht? Als ob das erwachsenentauglich wäre? Ich habe das Gefühl, ich existiere in einem Paralleluniversum. Hamas hat schon zum Zeitpunkt des Pogroms am 7. Oktober ihre Gewalt live gestreamt, auf Social Media und über die privaten Handys der Opfer gepostet. Wir haben sie alle gesehen. Wir werden sie nie vergessen. Statt Social-Media-Plattformen aufzufordern, bitte keine Exekutionen live zu streamen, könnte man vielleicht auch anfangen, von der Hamas zu fordern, keine Exekutionen durchzuführen.