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Das Schlimmste steht uns erst bevor 

Am 29. Oktober werden über 30 Graffiti an die Universität Wien gesprüht. „Free Palestine from German Guilt.“ und ähnliche antisemitische Parolen stehen groß auf den Wänden der Universität. Freund*innen in Wien dokumentieren und ordnen die Fälle ein. Auch sie sind jüdisch, traumatisiert und überbelastet. Ihre Sicherheit dort ist nicht garantiert. C. berichtet mir von antisemitischen Erfahrungen mit einer Lehrperson an der Universität, die ich, um C. zu schützen, nicht wiederholen möchte. Antisemitische Propaganda auch innerhalb studentischer Organisationen. Die Lage für jüdische Studierende spannt sich an, gerade, weil jene in Machtpositionen, gerade, wenn es Lehrende sind, fast nie Konsequenzen für ihr diskriminierendes Verhalten spüren müssen. Selber Tag. Es landet in Dagestan ein Flugzeug, das bereits umgeleitet wurde, aus Angst, ein antisemitischer Mob würde sie am ursprünglichen Flughafen heimsuchen. Damit dann genau das am umgeleiteten Flughafen zur Realität wird. Ein antisemitischer und gewalttätiger Mob geht Juden am Flughafen jagen. Die angereisten Passagiere haben Todesangst. Wie soll man auch in so einer Situation wissen, ob man da jemals lebend rauskommt? Ohne zu wissen, was genau einen draußen erwartet, wie aggressiv die Menschen sind, wie weit sie gehen würden? Nur einen Tag später, am 30. Oktober, werden Bombendrohungen an mehrere jüdische Schulen in Paris gesendet. Am nächsten Morgen finden sich zahlreiche Häuser, in denen jüdische Menschen leben, mit Davidsternen markiert – wie in Berlin nur wenige Tage zuvor. Am selben Morgen ist der Vorraum zur Zeremonienhalle des jüdischen Teils des Zentralfriedhofs in Wien nach einem Brandanschlag in der Nacht komplett ausgebrannt. Hakenkreuze und ”Hitler“ stehen auf den Wänden. Pogromstimmung. 

Es ist der 2. November. Als ich, wie jeden Tag, im Bus zur Uni sitze, lese ich auf Instagram von einer Truppe junger Soldaten, die in Gaza getötet wurde. Darunter mein ehemaliger Nachbar in Israel. Ich kann kaum glauben, was passiert. Ich sitze im Bus, die Welt dreht sich weiter, rund um mich weiß niemand, was passiert ist, während vor mir meine Welt zusammenbricht. Über Instagram. Nicht über WhatsApp, nicht per Telefon. Auf Instagram. Durch bloßen Zufall. Am Weg zur Uni. Ich fühle mich wie betäubt. Die Wände am Weg zur Universität sind vollgeschmiert mit den Worten ”Free Palestine“. Rund um die Getreidegasse, aber auch in unmittelbarer Nähe zum Zentrum für Jüdische Kulturgeschichte und zur Theologischen Fakultät. Und einer anderen außeruniversitären jüdischen Institution, die ich aus Sicherheitsgründen nicht nennen kann, die aber schon zuvor mit Hakenkreuzen beschmiert wurde. Gäbe es nicht ein paar großartige Menschen an dieser Universität, die sich dieser Sache annehmen würden und diese Schmierereien sofort entfernten, dann stünde das dort wahrscheinlich immer noch genauso wie an vielen anderen Ecken der Stadt. Die Häufung gerade um vulnerable Institutionen ist besorgniserregend. Die Person, die die Schmierereien seit einigen Tagen an die Wände pflastert, weiß ganz genau, was sie tut und wo sie das tut. Dass das in Anbetracht des Umfeldes, in dem diese Schmierereien auftreten, sehr wohl einen antisemitischen und damit strafrechtlich relevanten Beigeschmack hat, interessiert wohl niemanden genug. Alles ist ”zu vage“.  

Auch ich überlege, ob es sich lohnt, das zu melden. Ich mache mir Sorgen um die Mitarbeitenden dort. Mittlerweile aber geben Meldestellen wie RIAS in Deutschland bekannt, gar keine akkuraten Zahlen zu antisemitischen Vorfällen mehr geben zu können, weil sie so geflutet werden mit Nachrichten, dass sie sie gar nicht mehr in dieser Geschwindigkeit bearbeiten und verifizieren können. Ein etwa 300%-iger Anstieg antisemitischer Vorfälle scheint wohl nichts zu sein im Vergleich zur Realität, in der sie die Fälle gar nicht mehr bearbeiten können. Und die meisten antisemitischen Vorfälle, die einem passieren, meldet man ja dann doch irgendwie nicht. Manche davon sind wohl ”zu vage“, als dass man sich das traut. So viel zur sogenannten ”Antisemitismuskeule“. 

Es ist der 7. November. Die Shloshim, die dreißig Tage Trauer im Judentum, nachdem man jemanden verloren hat, sind offiziell vorbei. Der Krieg geht trotzdem weiter und auch unsere Trauer nimmt kein Ende. Jeden Tag Raketenalarm, mehrmals, auch an diesem Tag. Ich wache auf, Paul Kessler, ein 69-jähriger jüdischer Mann, wurde im Zuge einer ”Pro-Palästina“-Demonstration von einem Protestierenden mit einem Gegenstand auf dem Kopf zu Boden geschlagen und starb an den Verletzungen. Die Demonstration ging trotzdem weiter. Neben ihm. Kein Mitleid, kein Schamgefühl. Dass dort gerade ein Mann getötet wurde, wen interessiert das schon? Er war Jude, wie schlimm kann das schon sein? Ich sitze zuhause, als ich es lese. Wissend, dass ich mich in einer Welt befinde, in der Jüdinnen*Juden auf offener Straße getötet werden und es nicht nur niemanden interessiert, sondern Leute auf ähnlichen Demonstrationen ”Tod den Juden“ rufen und der Mord an uns gefeiert wird.  

Heute ist der letzte Tag, an dem ich etwas schreiben werde. Es ist der 8. November. Eigentlich wollte ich diesen Text lange abgegeben haben. In der Staatsbibliothek Berlin haben ”Aktivist*innen“, die sich selbst als vermeintlich feministisch geben, anitiisraelische und shoah-relativierende Hasspropaganda abgespielt. Jüdische Kolleg*innen von mir befinden sich in der Bibliothek. ”Free Palestine“, ”History is repeating itself“, Audioaufnahmen von Krieg, Gewalt und Ähnlichem. In einem geschlossenen Raum, in dem davon auszugehen ist, dass Kriegsbetroffene sich darin befinden. Die so schnell da auch nicht rauskommen. Die diese Aufnahmen hören und nicht wissen, was los ist. Wie weit das geht. Sind das nur Aufnahmen? Beobachtet mich jemand? Passiert das wegen mir? Verfolgt mich jemand? Wo und wie komme ich hier raus? Lauert mit draußen jemand auf? Sterbe ich jetzt? Für Betroffene bedeuten solche Situationen nicht nur Retraumatisierung, sondern Todesangst. Das muss den ”Aktivist*innen“, die sonst doch auch so sensibilisiert auf jede Form von Trigger sind, bewusst sein. Es ist gezielte psychische Folter an Jüdinnen und Juden. Und so sehr wir versuchen, uns auf jede Form von Gewalt vorzubereiten: Jeden Tag kommen neue Nachrichten von neuen Todesopfern aus Israel. Von Menschen, die wir kennen und lieben. Niemand kennt jemanden, der niemanden kennt. Gleichzeitig die antisemitische Gewalt hier, die sich in so vielen so unberechenbaren Wegen auftut. Auf psychische Folter im öffentlichen Raum ist man nicht vorbereitet. Auf die Menge der Strategien, die sich Antisemiten in ihrer krankhaften Obsession mit uns durch den Kopf gehen lassen, kann man sich schlichtweg nicht vorbereiten.  

Und ob Palästina mit einer von diesen oder den anderen zahlreichen antisemitischen Aktionen auf Demonstrationen, auf denen Flaggen von den verschiedensten Terrorgruppierungen der Welt geschwungen werden, wirklich befreit wird, wage ich zu bezweifeln. Aber darum ging es den Menschen dort doch ohnehin nie. Es ging ihnen nie um etwas anderes als einen Weg zu finden, ihren Hass gegen Jüdinnen*Juden zu legitimieren und uns zu terrorisieren. In einer Welt, in der alles ”Antizionismus“ ist. In der alle, von Coronaleugnern zu Rechtsextremen zu vermeintlich palästina-solidarischen Menschen zu sonstigen Gruppierungen ”die neuen Juden“ sind, wie sie selbst sagen, und nur Juden keine Juden, sondern nur ”dreckige Zionisten“ sind, in der funktioniert das. In einer Welt, in der alle entscheiden dürfen, was antisemitisch ist und was nicht – außer uns Jüdinnen*Juden, in der können wir uns sicher sein, dass das, was wir hier gerade sehen, der Anfang von ”wie konnte das alles nur passieren“ ist. Und es passiert vor unseren Augen.  

Morgen jährt sich die Reichspogromnacht. Es wird ein Tag voller leerer Worte, wie die letzten Jahre auch. ”Nie wieder“, ganz bestimmt. Was ich am 9. November mache? Beten, dass sich die Geschichte nicht noch einmal wiederholt. Das Schlimmste, denke ich, steht uns leider erst bevor. Für euch ist dieser Text jetzt vorbei, für uns geht der Terror weiter. Dieses Mal sind wir aber bereit. Am Yisrael Chai.   

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