Skip to main content

Sonnenaufgang in einer Ramadan-Nacht, die geeignete Zeit für den IS, um im Namen Gottes Kurden umzubringen. 

von Aljeen Hasan

Es ist die Nacht vom 25.06.2015 und zugleich der achte Tag des Ramadans. Ich sitze wie in jeder Ramadan-Nacht in unserer kleinen Küche – in dieser Nacht lerne ich für die morgige Maturaprüfung. Es ist gerade 05:15 Uhr und ich bin sehr erschöpft und aufgeregt wegen der Arabisch-Prüfung morgen. Ich nutze die Zeit in der Nacht, in der ich trinken und essen darf und lerne, bis die Sonne aufgeht. Ich muss die Prüfung um jeden Preis bestehen, denn ich habe wegen des Krieges in Syrien bereits ein Jahr versäumt und will kein weiteres Jahr opfern. Inzwischen mache ich eine kleine Pause und entschließe mich, auf Facebook ein bisschen zu surfen.

Plötzlich schnürt sich mein Magen zusammen, meinen Herzschlag höre ich in meinen Ohren pulsieren. Blitzschnell und mit all meiner Kraft schmeiße ich das Handy aus meiner Hand. Ich drücke fest auf meine Augen und versuche das letzte Bild aus meinem Gedächtnis zu entfernen. Es liegt ein etwa 5-jähriges Kind in seinem Bett und seine Eingeweide hängen aus seinem Bauch heraus. Je mehr ich auf meine Augen drücke, desto stärker erscheint das Bild vor meinen Augen. Mein Herz schlägt wie wild und so laut, dass es mich erschreckt. Ich versuche zu atmen. Ist das, was ich gerade sehe, überhaupt wahr?

Nach ein paar Sekunden strecke ich meine zitternden Hände aus und ergreife das Handy wieder. Das Foto von dem Kind ist noch am Bildschirm zu sehen, schnell scrolle ich nach unten, aber es gibt ein weiteres Foto. Eine in Blut liegende Frau, neben ihr liegen drei Kinder in Schlafanzügen und mit abgeschnittenen Köpfen. Das Foto von dem kleinen Kind ist nicht das einzige. Je mehr ich runter scrolle, desto mehr Fotos von niedergestochenen und geköpften Menschen. Aufgeschlitzte Bäuche, abgetrennte Körperteile, Männer, Frauen, Omas, Kinder und manchmal die ganze Familie liegen in Blutlachen. Sie wurden gerade von Anhängern des Islamischen Staates umgebracht.

Hunderte von IS-Anhänger schleichen in die kurdische Stadt Kobanê, die eigentlich nach mühsamen Kämpfen und Widerständen, sich von der IS-Kontrolle befreit hat. Die IS-Anhänger schafften es aber, wieder in die Stadt zu kommen. Heimlich fielen sie in die Stadt ein, in dem sie sich in zivil und Uniformen der kurdischen Selbstverteidigung gekleidet haben. Kurz vor 04:00 haben sie sich in der Stadt verbreitet, an die Türen der Zivilisten geklopft und die erste Person, die die Tür öffnet, niedergemetzelt. Still und unauffällig trennten sie die Köpfe in den Häusern ab. Die Bewohner sind zu dieser Uhrzeit wach, weil sie „Sahūr“ machen wollen, also die Mahlzeit vor dem Fasten. Sie dachten, es sind bestimmt die Nachbarn, die hinter den Türen stehen und vielleicht etwas brauchten. Nachbarn, die auch aufgewacht sind, um ihre Pflichten gegenüber Gott zu erfüllen. Sie hatten nicht die geringste Ahnung, dass Leute, die nichts vom Islam wissen wollen, im Namen des Islams töten. Nur weil sie glauben, dass die Kurden Ungläubige sind, aufgrund ihrer ethnischen Wurzeln. Die IS-Anhänger haben den Verlust um den Kampf in Kobanê nicht ertragen, somit wollten sie Rache üben. Die kurdischen Frauen haben hart gegen den IS gekämpft, und viele IS-Soldaten wurden durch die mutigen Kämpferinnen umgebracht. Für den sogenannten Islamischen Staat ist das Sterben durch die Hand einer Frau das Schlimmste, was je passieren kann. Dadurch kommt man nicht ins Paradies, das besagt ihre Ideologie. 

Ich lese diese Beschreibung zu den Bildern im Internet und drehe mich in diesem Augenblick um. Jemand klettert auf meinen Balkon. Mein Herz schlägt wie verrückt. Ich erstarre und sitze zitternd da und frage mich: Bin ich jetzt die Nächste? Ich habe in meinem Leben noch nie diese Angst gespürt wie in diesem Moment. Es nähert sich der Tod. Ich schmecke Blut in meinem Mund. Alles woran ich denken kann, ist es, nur zu verschwinden, ich will nicht sterben, jetzt klettert er hinauf, und dann? Frage ich mich in diesem Moment.

Aber stopp, warte!

Ich bin hunderte Kilometer entfernt von Zuhause und befinde mich genau gegenüber der Grenze, auf der anderen Seite von Kobanê. Es kann mich hier keiner umbringen, aber die IS-Anhänger haben ein gutes Verhältnis zur Türkei und wenn sie wissen, dass ich aus Kobanê bin, was passiert dann? Diese Fragen schwirren in meinem Kopf umher.

Es ist 05:56 Uhr, ich befinde mich wieder in der Küche, es ist zugleich der 6. Tag von Ramadan. Ich bereite mich diesmal nicht auf die Matura vor, sondern schreibe eine Seminararbeit über die IS-Verbrechen gegen die kurdischen Frauen in Syrien. Es sind inzwischen mehr als neun Jahre vergangen. Ich studiere jetzt an einer europäischen Universität und forsche über IS-Verbrechen, als ob die Terrororganisation IS niemals existiert hätte, als ob das Kobanê -Massaker nie existiert hätte. Als ob in jener Ramadan-Nacht keine 345 Menschen, die auch fasten wollten, umgebracht wurden, im Namen Gottes, für den auch sie fasten. Es sind neun Jahre vergangen und in jeder Ramadan-Nacht, in der ich bis zum Sonnenaufgang lerne, kommt das Bild von dem kleinen Kind vor meinen Augen. Und ich schaue mir ängstlich an, ob jemand auf meinen Balkon klettert.

Es sind aber mehr als vier Jahre vergangen und ich schreibe jedes Mal über den IS und setze mich damit auseinander. Ich wusste lange nicht, warum ich mich immer wieder mit dem beschäftige, warum es mich so anzieht. Heute habe ich den Grund endlich erfahren, das werde ich euch aber das nächste Mal erklären.

Hinterlasse ein Kommentar

Skip to content