Am 7. Oktober griff die islamistische Terrororganisation Israel an und ermordete bei diesem Überfall rund 1200 Menschen. Der Terrorangriff zeigte auch außerhalb Israels seine Wirkung und äußerte sich in antisemitischen Ausschreitungen und der Anfeindung von Jüdinnen und Juden. Die jüdische Studierende Y.G. (Name der Redaktion bekannt) hat über ihr Erleben nach dem 7. Oktober geschrieben.
Von Y.G.
Seit einigen Tagen nun sitze ich an diesem Text. Bis heute weiß ich nicht, wie ich die Dinge, die ich erlebt, gesehen, gehört, gefühlt habe, auch nur irgendwie in Worte fassen soll. Mein letzter Monat bestand aus nichts anderem als Terror. Terror gegen uns. Jüdinnen*Juden. Jeden Tag. Den ganzen Tag. Überall auf der ganzen Welt. Ausnahmslos. Kein Ende. Kein Frieden.
Es folgt daher keine weitere, unterkomplexe Analyse von Menschen, die von diesem Krieg nicht betroffen sind. Ich glaube, davon gibt es mehr als genug; gerade an akademischen Institutionen, die unsere Existenzen gerne so weit abstrahieren, dass es den zu dem ”Thema“ Forschenden schwerfällt, sich überhaupt noch vorzustellen, dass wir, über die sie schreiben, reale Menschen sind. Was stattdessen folgt, ist ein mir sehr unangenehmer, aber auch ein ehrlicher Einblick in den letzten Monat meines Lebens und was dieser Monat für mich und mein gesamtes soziales Umfeld, das ausnahmslos vom Krieg in Israel betroffen ist, bedeutet hat. Das mache ich nicht, weil ich es gerne mache. Im Gegenteil, es ist mir peinlich, meine Gefühle und Gedanken mit Fremden zu teilen. Aber ich glaube, es braucht Perspektivierung. So viel wird über uns Betroffene gesprochen und doch so wenig mit uns. Uns, für die es am Ende des Tages um Leben und Tod geht.
Ich kann bei weitem nicht alles abbilden, was ich gerne teilen möchte. Was ich aufliste, ist nicht mal annähernd ein Bruchteil der Sorgen, der Gedanken, der Dinge, die in diesem Zeitraum passiert sind. Es ist lediglich ein Auszug.
Aus Sicherheitsgründen werden keine Namen genannt.
Das Simchat-Torah-Pogrom
Es ist der 7. Oktober 2023. Ich wache morgens auf, das Wetter ist gar nicht mal so schlecht. Simchat Torah. Der Tag, an dem wir mit dem Zyklus der Torahlesung von Neuem beginnen. Es sollte eigentlich ein fröhlicher Tag sein. Der zweite Blick am Morgen fällt vom Fenster auf mein Handy. Ja, ich weiß, es ist eine schlechte Angewohnheit. Eine Benachrichtigung von Kan, einem großen Nachrichten- und Fernsehsender in Israel: fünf Menschen ermordet im Süden. Schockiert zeige ich T. die Benachrichtigung. Wir waren baff. Fünf Menschen in einem Terroranschlag im Süden tot? T. hat Freunde dort und macht sich Sorgen. Wir wussten derweil noch nicht, was in den darauffolgenden Stunden auf uns alle zukommen würde.
Aus dem ursprünglichen Plan, den langen Tag zu genießen und sich über Simchat Torah zu freuen, wird nichts. T. und ich sitzen am Esstisch vor unserem Kaffee und starren auf unsere Handys. Stundenlang. Im Sekundentakt springen Benachrichtigungen der Terror-Warnapps in Israel auf dem Bildschirm auf. Dazwischen manchmal Live-Updates aus dem News-Ticker, den wir verfolgen. Auf einmal sind es nicht mehr fünf, sondern dutzende, hunderte, am Ende 1.400 ermordete und über 240 entführte Menschen, Männer, Frauen, Kinder, Babys. Wir schreiben Familie und Freund*innen in Israel, ob es ihnen gut geht, ob sie überhaupt noch leben. Von den meisten kommt zunächst gar keine Antwort. Stunden des absoluten Horrors.
Auf Social Media kann man die Hölle live verfolgen. Bilder und Videos von jungen Menschen, die gerade noch auf einem Rave feiern und dann brutal ermordet werden. Von jungen Familien, die ihre Zukunft in ihrem Kibbuz aufbauen wollten. Alle tot. Und alle können es sehen. In Livestreams, durch Posts auf Instagram, Facebook, TikTok. Terroristen schicken Videos und Bilder über WhatsApp und andere soziale Medien über die privaten Telefone der Toten an deren Angehörige, Freunde, Bekannte. Dann rufen sie ihre eigenen Familien an. „Papa, ich habe zehn Juden getötet! Schau es dir an! Bist du stolz auf mich?“, lauten die Worte eines Hamas-Terroristen in einem Telefonat mit seinem Vater.
Wir sitzen da fühlen uns schlecht. Schuldig. Schuldig, weil wir nicht dort waren. Weil wir nichs machen können, außer von Salzburg aus zuzusehen, wie die Terroristen der Hamas willkürlich Menschen massakrieren, Frauen gruppenvergewaltigen, ermorden, verstümmeln. Babys in Backöfen. Geköpft. Das Ausmaß der Gewalt, der Bilder und Videos, die wir gezwungenermaßen sehen mussten, ist unvorstellbar. Es sind Bilder, die wir unser Leben lang nicht mehr vergessen werden. Vor unseren Augen passiert das größte Pogrom gegen Jüdinnen*Juden seit der Shoa und wir können nichts anderes machen, als vor diesen Minicomputern zu sitzen und das Ganze mitanzusehen. Dann emotionale Taubheit. Totaler Schock. Nun seit einem Monat. „Ich glaube, das wird noch richtig, richtig schlimm. Warte ab, wie schlimm uns das auch hier noch treffen wird“, sage ich am Ende des Tages zu T. Ich selbst konnte mir damals noch nicht vorstellen, was uns noch alles erwartet.
Alltag im Paralleluniversum
Es ist Montag, der 9. Oktober 2023. Seit zwei Tagen geht der Raketenalarm auf meinem Handy im Minuten-, wenn nicht sogar im Sekundentakt. Ich wache auf, 50 und mehr Benachrichtigungen. Raketen über ganz Israel. Ich trinke meinen Kaffee und gehe los Richtung Uni. Vom Wochenende erholt? Im Gegenteil. Das Wochenende hat mich mehr Kraft gekostet als das gesamte bisherige Jahr. In meinem Kopf ist alles laut und still zugleich. So viele Gedanken und Gefühle gleichzeitig. Gleichzeitig sind sie so schwer greifbar. Unbegreifbar.
Ich sitze im Bus Richtung Universität, weil mir die Energie für das Fahrradfahren fehlt. „Sie haben meinem Cousin in den Kopf geschossen!“, schreibt C. mir auf WhatsApp. Die Benachrichtigung taucht auf meinem Handy auf, während ich durch Instagram scrolle. Mein Feed ist neben dem Krieg auch voll mit Posts zum Gedenken an das Attentat auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober 2019, an Yom Kippur. Ich erinnere daran, als wäre es gestern gewesen. Bis heute verfolgt uns an Yom Kippur die kollektive Angst vor einem erneuten Anschlag. Meine Freundin, die damals in der Synagoge war und den Angriff überlebte, meldet sich am selben Tag bei mir und fragt mich, wie es mir geht. Bis heute habe ich keine Antwort auf ihre Frage gefunden. So viele Gedanken und so wenig Kraft. Mein Arbeitstag hat zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal begonnen und ich bin erledigt.
An der Uni werde ich von meinen Kolleg*innen gefragt, ob alles okay sei. Sie haben ”das alles“ ja mitbekommen und machen sich Sorgen. Immerhin das. Immerhin hier habe ich Glück, denke ich mir, dass ich – nach ganz anderen antisemitischen Erfahrungen innerhalb dieser Institution – immerhin an dem Ort, an dem ich jetzt bin, so sicher bin, wie man es wahrscheinlich sein kann. Verstehen wird mich auch hier niemand. Niemand kann sich vorstellen, wie groß das Ausmaß der Gewalt in meinem Alltag und dem Alltag meiner jüdischen Freund*innen wirklich ist. Wie sehr jede Handlung zu diesem Zeitpunkt von Angst bestimmt ist. Der totale Kontrollverlust über jede potenzielle Zukunftsperspektive der gesamten jüdischen Community, und irgendwie muss der Alltag daneben aber weitergehen.
„Soll ich heute in die Vorlesung gehen? Denkst du, das ist sicher? Was ist, wenn meine Kolleg*innen etwas machen? Ich weiß nicht, was sie machen sollen, aber, das ist ja genau der Punkt. Ich weiß es nicht. Alles ist möglich“, meldet sich A. A. studiert. Ich wünschte, ich könnte euch mehr über A. erzählen, aber A. hat Angst. Angst vor Antisemitismus an der Universität, durch Studierende, denn wer weiß? Die antisemitische Gewalt, psychisch wie physisch, an Universitäten auf der ganzen Welt wird in den darauffolgenden Tagen noch massiv steigen. Intellektualisierter Antisemitismus wird eine treibende Kraft in diesem Krieg. A. hat Angst vor Benachteiligung durch Professor*innen, die A. gegenüber vielleicht antisemitische Ressentiments hegen. „Aber wer ist denn für mich da, wenn etwas passiert? Wo kann ich hingehen? Wie soll ich denn was sagen, wenn niemand da ist? Was ist, wenn das alles viel zu subtil ist und die mir am Ende noch vorwerfen, ich würde irgendeine ‚Antisemitismuskeule‘ werfen? Du weißt doch genau, dass die Leute hier uns nie glauben. Am Ende hilft mir doch eh niemand.“
Ich weiß, wohin. Nicht dank präventiver Maßnahmen, sondern aufgrund persönlicher Erfahrung. Auch an der Universität Salzburg. Es gibt Fachbereiche, Professor*innen, ganze Studienvertretungen, die ich an diesem Punkt gezielt meide, nachdem ich mit ihnen antisemitische Erfahrungen sammeln musste. In der Theorie wollen alle gegen Diskriminierung sein. Praktisch sieht das für uns als Jüdinnen*Juden oft anders aus. Es bleibt die Frage auf institutioneller Ebene, aber eigentlich auch auf jedem Bereich des Lebens, offen: Wo können wir hingehen? Im Kleinen. Wie im Großen. Wer hört uns zu? Wer unterstützt uns an der Universität, wenn nicht wir selbst? Niemand sollte Angst vor Diskriminierung an einer öffentlichen Institution haben müssen – again, theoretisch. Praktisch fehlt aber das Bewusstsein, es fehlt die Sensibilisierung innerhalb der Universität und es fehlt vor allem der Rückhalt jener, die sich weiter oben in der Hierarchie befinden und die Universität nicht nur nach innen, sondern auch nach außen repräsentieren. Ich habe in meinem kleinen Umfeld Glück. Jetzt. Endlich. A. bisher, baruch hashem, auch. Andere haben das weniger.
Am selben Tag zu Mittag treffe ich R. in einem Café in der Stadt. Wir sprechen über den Krieg, über Sorgen, über die Zukunft. Worüber man halt so gerne in seiner Mittagspause nachdenkt. Er ist ein guter Kollege und Freund; seit einigen Jahren bereits. Er arbeitet an der Universität. Kennen tue ich ihn von da zwar auch, aber wirklich angefreundet haben wir uns erst, als ich in der Stadt antisemitisch angegangen wurde und er irgendwie – ohne bis zu diesem Zeitpunkt überhaupt zu wissen, dass ich jüdisch bin – für mich da war. Ich tausche mich gerne mit ihm aus, weil er meine Standpunkte versteht, aber auch herausfordert. Und umgekehrt. Wir lachen gemeinsam durch jede antisemitische und auch andere Krise, die das Leben so bietet. Wir wollten gerade unsere Geldbeutel auspacken, um zu bezahlen, als eine der beiden Frauen am Nachbartisch uns mit hebräischem Akzent fragt, wo denn der Kellner sei. Ich antworte ihr auf Hebräisch und wir beginnen, über den Krieg zu sprechen. Über unsere Familien und Freund*innen, bei denen wir gerne sein wollen würden. Die beiden Frauen wollen nach Hause und sitzen in Österreich fest. „Nichts macht mir mehr Freude, ich will zu meiner Familie. Ich komme hier nicht raus, es gibt keine Flüge. Wir wollten hierherkommen, um eine schöne Zeit zu haben, doch wie sollen wir die Zeit hier genießen können, während unsere Familien im Krieg sind?“ Ihre Freundin, mit der sie dort gemeinsam sitzt, wird plötzlich angerufen. Sie bricht vor unseren Augen in Tränen aus. „Meine Schwester wurde von Hamas ermordet, ich kann es nicht glauben! Das kann nicht die Realität sein! Das ist nicht echt, es kann nicht echt sein! Ich halte das Leben nicht mehr aus! Ich will nach Hause! Ich kann nicht mehr!“ Ich bringe ihr ein Glas Wasser und Servietten, um die Tränen wegzuwischen. Wir sitzen und reden noch ein paar Minuten, bis R. und ich losmüssen. Die Arbeit ruft. Falls ihr noch nicht vergessen habt, den vermeintlichen ”Alltag“ muss es ja trotzdem geben. Ich fühle mich schlecht, dass ich nicht geblieben bin und mehr getan habe. R. meint, er könne gar nicht glauben, dass das gerade passiert sei. Ich schon. Es ist eine kalte Welt da draußen.