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Sie ist schon die ganze Nacht wach und als bei Krötchenwohls Balkon das Licht an- und nach einigen Minuten wieder ausgeht, er hinaustritt, mit einem Fernglas umherschweift, länger auf der Stadtbibliothek haften bleibt und das Drehen des Schlüssels verrät, dass er die Wohnung verlässt, muss sie schauen, was dieser Bücherschänder zu so einer gesellschaftsunfähigen Uhrzeit bezweckt. 

Die Verfolgung dauert nicht lange, Krötchenwohl überquert nur die Straßenseite zur breiten Glasfront der Stadtbibliothek, deren dahinterliegende Buchlandschaft schemenhaft dem blechernen Graumond und den gelb, im Zweivierteltakt aufleuchtenden Ampeln wegen durch die nächtliche Stille hindurch erkennbar ist. 

Hinter einem abgeparkten Automobil ausharrend, ihn beobachtend, greift sie zum Tastentelefon und gibt eine letzte Nachricht an Friederike ab, weil Krötchenwohl sich gerade mit einem Glasschneider durch die Türe Zutritt verschafft, nicht ohne davor, sich umsehend, fast Liyana entdeckt, dann in die Dunkelheit des Büchertempels abtaucht. 

Liyana zählt bis sechzig, bevor sie es ihm gleichtut. Drinnen hört sie ihn aus fernen Winkeln vom Teufel fluchen und ihr klingt es, als wenn das Schimpfen unisono aus den ziegelnen Bänden der Buchmauern auf sie eindringt, deren nächtlicher Anblick ihr die Vorausschau geben will, dass alle zur gleichen Zeit, während sie ihnen entlang tappt, aus ihrer Vermauerung auf sie niederprasseln und unter dem Gewicht seismisch begraben. 

Sie findet ihn, kniend im hinteren, fensterlosen Teil des Erdgeschosses, nun eine Taschenlampe umbeißend, gebeugt über ein übergroßes Marmeladenglas, das er unfreundlich anzustupsen anfängt. Als Reaktion regt sich der schwarze Fleck darin. Ein Summen wie von Hornissen wird hörbar. Unzählbare Flügelpaare knallen stur und immer wieder von vorne gegen den Verschluss, wollen sich Ausgang verschaffen. Krötchenwohl schüttelt das Gefäß kräftig durch, wodurch der Zorn der Eingeschlossenen noch erhitzter wird. 

Liyana tritt hervor. 

„Was führst du da für eine irres Schauspiel auf, Krötchenwohl?“ 

Seine Erstarrung wirkt nur für einen Augenblick. Er macht einen weiten Satz auf sie zu, das Glas dabei fest an die Brust geklammert. Mit Schwung zielt der Frontkick treffgenau in ihre Bauchmitte und pfeffert sie rücklings aufs Parkett, wo ihr der Atem ausbleibt und erst mühselig zurückkommt, als Krötchenwohls Schuhsohle schon über ihre Finger gequetscht ist und die andere drohungsvoll an den Kehlkopf anlehnt. 

„Warum schnüffeln Sie in Angelegenheiten, die nur meine Person etwas angehen? Wissen Sie denn nicht, welche Gefahren daraus erwachsen können?“ 

„Weißt du denn nicht, dass die Bibliothek Öffnungszeiten vertritt, die auch für dumme Ameisenfresser wie dich gelten! Was treibst du hier? Was ist in dem Glas?“ 

„Ich verrate es Ihnen, weil ich Sie später ohnedies mit dem Inhalt desselben alleine lassen werde. In dem Glas befindet sich eine meiner neuen Züchtungen. Modifizierte Kleidermotten. Wahrhaftig wunderschön gelungen Exemplare.“ 

„Das sind doch keine Motten da drinnen! Hört sich an wie ein Geschwader feuerspeiender Stukas.“ 

Krötchenwohls hohe Lachtöne resonieren durch seinen knochigen Oberleib die Bibliothekswände auf- und abwärts. 

„Es handelt sich sehr wohl um Motten, künstlich mutierte Tineola bisselliella, um genau zu sein.  Ihnen ist jedoch im beträchtlichen Maße mehr Angriffslust, Beißwut und Heißhunger eigen.“ 

„Wofür der Quatsch?“ 

„Nun, mir sind es ein wenig zu viele Bücher in dieser Bibliothek. Und meine Helferlein werden dem Abhilfe schaffen. Die Buchseiten, die ich letztens den Bibliotheksbändern entnahm, Sie entdeckten mich hierbei, ich offenbare es Ihnen, brauchte ich als Material für die exakte Konditionierung. Im Handel welche erwerben, das ist unter meinem Stand.“ 

„Was bitte! Dir haben deine Krabbler doch alle Hirnnerven durchgeknabbert.“ 

„Wenn der Buchbestand morgen früh dann vollständig zerfressen ist, lässt sich sicherlich eine angemessene Einigung mit meiner guten Bekanntschaft, Bürgermeister Hütwitz finden, wie das Gelände der Stadtbibliothek in meinen privaten Besitz überwechseln kann.“ 

„Und dann ein Betonklotz voller Einzimmerwohnungen.“ 

„Nein, nein. Dann beginnen die Ausgrabungen.“ 

„Für den Schatz der Azteken hast du dich bei den Längen- und Breitengraden aber etwas verrechnet.“ 

„Hier müssen irgendwo Gemälde Anita Rées tief in der Erde vergraben sein. Ihre Kunstwerke warten, von mir aufgespürt zu werden.“ 

„Wer ist das?“ 

„Eine entartete Malerin für die Nazis und eine ergiebige Geldanlage für mich. Die Tagebucheintragungen eines verstorbenen SS-Brigadeführers aus meinem Familienkreis belegen, dass einige ihrer für verschollen geglaubten Werke genau hier kurz vor Kriegsende…“ 

Liyana macht einen waghalsigen Sprung aus der liegenden Position in die Höhe, schlägt Krötchenwohl dabei ihre Ferse wie einen Rammbock in die Lende, gibt ihm einen Schubs mit beiden Fäusten, sodass er Schritte nach hinten schwankt, versucht sich wo festzuhalten und bringt beim Sturz einige Bücher aus dem Regal mit zu Fall. Das Glas mit den Motten aus Eigenzucht ist derweil von ihm losgelassen und in die Höhe geschleudert, macht einige Saltos durch die Luft und prallt zerbrechend auf seinen Schädel. 

Kreischend und brüllend schlägt Krötchenwohl durch die Luft, versucht die freigekommenen Viecher zu erschlagen, die sich zum Teil, auf Gesicht, Nacken, Arme, Beine schon festsaugen, zum Teil nach allen Seiten in die weiten, hohen Räume ausschwirren. 

Perplex über ihren reibungslos abgelaufenen Befreiungsakt und dessen Wirkung macht Liyana ein paar unsichere Schritte zurück, das Geschehen beobachtend, erkennt, dass die Zeichen auf Flucht stehen und rennt los durch das Labyrinth aus meterhohen Regelwänden, den Ausgang suchend. 

Hinter ihr Donnern, Krötchenwohl muss einen Revolver gezückt haben, Schüsse durch Holz, Papier und Wanddecke. Einige von Krötchenwohls Mördermotten krallen sich trotz des hohen Lauftempos an Liyanas Waden. Sie bekommt Angst, den Ausgang in all der Dunkelheit, all der Panik, die ihr vom Rückenmark zum Kopf hinaufschießt, nicht mehr zu finden. 

Plötzlich steht Friederike vor ihr. Liyana kracht, gerade noch mühevoll abbremsend, halb in sie hinein. 

„Hab deine Nachricht gesehen. Der Krötchenwohl hat wohl doch eine ernstere Macke, was? Kenne mich hier aus wie in meiner Westentasche. Komm!“ 

Friederike nimmt sie bei der Hand und eilt voran, findet die enge Wendeltreppe und sie stürmen Stockwerke abwärts. 

„Da gibt’s einen Tunnel, den nehmen wir.“ 

Sie müssen an Holzornamenten herumdrücken, damit das barocke Möbelstück im zweiten Untergeschoß beiseite gleitet und den Tunneleingang freimacht. In der Dunkelheit vorantastend, die Hände gegenseitig fest umdrückt, beider Puls von den kürzlichen Spitzen des Tumults wieder absinkend, erreicht sie schon Dämmerlicht vom Ende des unterirdischen Gangs her. 

Heraus kommen sie in einem Hinterhof mit abgeblätterten Mülltonnen, neben denen Friederikes Hollandrad parkt. Sie setzen sich auf das Rad, Friederike vorne, Liyana auf den Gepäckträger, radeln los in die aufbrechende Morgendämmerung und beginnen abwechselnd an einer selbstgefingerten Tabaktüte zu qualmen. 

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