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Die anfänglichen Monate schien für Liyana ihr Nachbar nur einem schrulligen Zeitgenossen zu entsprechen, ganz dem Typus argloser Wissenschaftler, der in seiner eigenen Welt der Krabbeltiere und sonstigen Insekten munter umhersteigt. 

Erst seit einem Incontro im Monat Mai in der Stadtbibliothek ist sie davon nicht überzeugt:  

Liyana tippt und streicht über die Buchrücken, die in den Bibliotheksregalen meterlang in Reih und Glied Wache halten, seit mehreren Viertelstunden ausschauend nach Lesestoff, einen Gang nach dem anderen voranschreitend. Verrenkt ab und an ihren Kopf in die Horizontale für die zu verknorzten Titel, zieht einen Band raus, öffnet, schnuppert rein und lässt meist schnell wieder enttäuscht ab und in die Lücke zwischen seine Bundesgenossen zurückgleiten. 

Je weiter man sich in das Innere der Stadtbibliothek vorwagt, desto mehr schwindet die Erinnerung, dass das Gebäude von außen wie ein gläserner Büroklotz wirkt. Schattige Unterschlupfecken, Sackgassen aus Sperrmüllähnlichem, Kommoden voller Staub und Plunder, an Strängen baumelnde, leicht hin- und her schwingende Glühbirnen prägen, je weiter man hinabsteigt die beiden Untergeschoße. 

Gerade um die Regalecke biegend, das Grummeln im Magen für Zeichen zum Aufbruch nachhause deutend, erblickt Liyana ihren Nachbarn, von ihr ab-, ganz den Büchern zugewandt. 

Der krumm gebückte Rücken bedeckt durch einen schwarzledernen Regenmantel, der Kragen weit hochgesteckt und einen Filzhut bis unter die Höhe der Brauen geschoben blickt er sich hastig um, Liyana zuckt hinter die Regalecke zurück, lugt nur mehr vorsichtig hervor, und Krötchenwohl fängt an, aus dem Buchband in seiner Hand Seite für Seite eilig herauszureißen. Die stopft er, sich nochmals nach allen Richtungen umspähend, in die Innentasche des Mantels. 

Das Schauspiel wiederholt sich einige Male, Krötchenwohl springt ohne System zwischen Regalpunkten hin und her, zehrt einen Band aus seiner standhaften Ruhe und skalpiert ihn brutal um einige Blätter. Liyana bleibt unbemerkt in ihrem Beobachtersitz und Krötchenwohl macht weiter, bis die Tasche zu einer ganz schönen Beule anschwillt. Dann trampelt er die enge Wendeltreppe aufwärts und Liyana findet ihn nicht mehr in der Stadtbibliothek. 

Liyana trifft auf ihn erst am übernächsten Vormittag beim Müllrausbringen im Stiegenhaus. 

Entgegen der Einstellung Friederikes, Liyana solle sich nicht so aufregen, Bücher seien nur leblose Gegenstände, sie übertreibe, Gustav vergesse sich eben in seinem Wissensdurst, ist Liyana mächtig sauer auf ihren Nachbarn Krötchenwohl. 

„Morgen.“ 

„Morgen, du warst vorgestern in der Bibliothek, stimmt’s?“ 

„Ja. Sie auch?“ 

„Ja, hab dich gesehen, du mich aber nicht, denke ich. Wusste gar nicht, dass wir hier im Haus alle mit Holzofen heizen und einem argen Anzündermangel ausgesetzt sind. Anders kann ich mir nicht erklären, warum du die Bibliotheksbücher bis zur Unlesbarkeit kastrieren musst. Verkaufst du die Buchseiten auf dem Schwarzmarkt oder was? Warum tut man sowas?“ 

„Was! Was reden Sie da!“ 

Krötchenwohls Gesicht flackert wie eine Straßenampel mit Wackelkontakt abwechselnd rot und grün und sein eiszeitkalter Blick pfeilt Liyana mitten durch die Schläfen. Zuerst zwei Schritte auf Liyana zu und den hageren Körper wie ein Seeungeheuer über sie beugend lispelt er ihr mehrere Verdammungsflüche entgegen, überlegt es sich aber anders und zischt durch den Türspalt zurück in seine Wohnung, der Türknall einem Sprengsatz gleich. 

Seither würzt Liyana ihre leidigen To-do-Listen, Jobcenterschikanen, Bewerbungen schmieren, Lebenslauf rekonstruieren, Aufnahmegespräche ertragen, mit Überwachungsarbeit auf und observiert Krötchenwohl, der, klarer Fall, etwas im Schilde führt. 

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