Die Fußball-WM in Katar war umstritten. Darüber waren sich fast alle einig. Das ist der Fußball aber allgemein, auch direkt vor unserer eigenen Haustür. Dieser Artikel soll den moralisch aufgeladenen, hegemonialen Diskurs zum Fußball im 21. Jahrhundert hinterfragen und nachhaltig auch nach Ende der WM eine andere, nämlich kapitalismuskritische Perspektive auf die großen Probleme des so wunderbaren Sports anregen – nicht mehr und nicht weniger.
Von Mario Karelly
Kürzlich besuchte ich eine ehemalige Siedlungsanlage der Huaxtek*innen, ein Mayastamm, mitten im Nirgendwo im nordwestlichen Zentralmexiko. Auch dort wurde in der vorkolumbianischen Zeit das Mesoamerikanische Ballspiel gespielt. Der Name sagt schon, dass dieses Spiel in ganz Mesoamerika verbreitet war (teilweise sieht man es ein paar Traditionalist*innen heute noch spielen). Man weiß nicht allzu viel über dieses Spiel, aber von Bedeutung für uns ist: Es wurde gespielt und es war höchstwahrscheinlich an religiöse Riten inklusive Menschenopfer gebunden.1 Somit ist durch die menschheitsgeschichtliche Konstante des Spiels und Sports (Stichwort homo ludens) und dessen Bindung an gesellschaftliche (Produktions-)bedingungen die Verbindung zum heutigen Fußball hergestellt.
Auch heute wird mit viel Leidenschaft gespielt und auch heute ist das mit Menschenopfern verbunden, nur dass diese dem neuen Gott namens Kapital zugewandt werden und nicht mehr so offen gehandhabt werden. Zumindest heutzutage spaltet das die Gesellschaft, wie man gerade bei der mittlerweile zu Ende gegangenen Fußball-WM gesehen hat – Boykott oder nicht? Für einige Menschen der (kulturellen) Oberschicht, die ohnehin vom Fußball nichts halten, war das eine gute (natürlich auch legitime) Möglichkeit, sich im kulturellen Klassenkampf von den Fußballprolet*innen endgültig zu distinguieren und zu entfremden (aber es gibt natürlich auch Hardcore-Fußball-Fans, die sich das Spektakel lieber nicht ansahen2). Naja. Die WM ist vorbei, der kurz aufgeflammte Diskurs ist wahrscheinlich ohnehin ins Nichts versickert, aber die Spaltung sollte in Zukunft vermieden werden. Deshalb muss das Thema gerade jetzt in den Köpfen bleiben. So zeitlos nämlich der Sport bzw. das Spielen ist, so begrenzt ist seine Gebundenheit an die aktuellen Produktionsbedingungen – an die Logiken des Kapitalismus. Es ist Zeit, die Menschenopfer für den Sport hinter uns zu lassen.
Das Problem der teilweise guten und investigativen Berichterstattung (z.B. die Doku WM der Schande im ARD) über das Zustandekommen der WM (bzw. generelle Fehlentwicklungen auch im Klubfußball, die auch stark an Katar gebunden sind: z.B. der katarisch-französische Klub PSG als Vorhut der WM) ist, dass falsche Schlüsse gezogen werden. Den Verantwortlichen, dem autokratischen Staat Katar oder der „neofeudalistischen“ FIFA3 und Gianni Infantio, wird eine moralische Schuld angelastet, z.B. kulminierend in dem Satz des Journalisten Jens Weinreich: Am Ende der WM der Schande bleibe nur Katar als Schurkenstaat.4 Am Ende läuft in Wirklichkeit jegliche Kritik auf einen schlecht kalibrierten moralischen Kompass der Politik(er*innen) hinaus. Die Basis, also die Produktionsbedingungen, bleiben in den meisten Medien unerwähnt und unanalysiert.
Es ist im ersten Moment paradox, dass gerade vom Bösewicht, der persona non grata Gianni Infantino selbst die Analyse dieser rein rhetorischen Praxis als heuchlerische Doppelmoral den Kern der Sache trifft.5 Vielleicht ist es aber nur auf den ersten Blick ein Widerspruch. Denn Infantino ist derjenige, der ganz genau weiß, wer neben Katar am meisten von der WM in autokratischen Staaten profitiert: Es ist der Westen, in diesem Fall obenan die FIFA als „ideeller Gesamtkapitalist“6, die Staaten und Konzerne, letztlich wir Moralist*innen selbst mit der pseudoweißen Weste. Ob verschiedenste Banken oder Fußballvereine wie PSG oder FC Bayern, in die Katar investiert oder deutsche Konzerne wie die DB oder Siemens, die in Katar Kapital akkumulieren7: Wenn, dann sind wir alle die Schurk*innen, die von diesem traurigen Elend im Zuge der WM im Billiglohnland (das Kafala-System gibt es inoffiziell ja weiterhin, wie Arbeiter*innen berichten8) am Persischen Golf profitieren. Es ist die expansive Macht des Kapitals, die für die elenden Zustände sorgt und nicht das genuin Böse in den Verantwortlichen. Dieses Elend, daran soll kurz erinnert werden, steckt auch in vielen anderen Produkten unseres täglichen Bedarfs. Wenn also Infantino die Doppelmoral anprangert, dann erkennt er das Übel besser als die meisten Kritiker*innen.