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Moralische Kritik funktioniert nicht, sie bleibt rein ideell und vermag es nicht, die Bedingungen zu verbessern. Der Kapitalismus ist zu anpassungsfähig. Zwei am selben Tag erschienene Artikel auf orf.at zeigen gut, wie dies funktioniert. Der eine behandelt mit dem treffenden Titel „Sinnbild für die Gesellschaft“ (dort für die katarische, hier auch für die unsrige) die für die Bewerbung 2010 geschaffene Frauenfußballnationalmannschaft, die nach erfolgreicher Bewerbung wieder abgeschafft wurde.9 In einem anderen Artikel geht es um Elizabeth Holmes, die mit der Entwicklung von revolutionären Bluttests im Silicon-Valley, die sich am Ende als Betrug herausstellten, Milliarden von Dollar gemacht hatte, bevor dies aufflog.10 Die folgende Kürzestanalyse bleibt bei orf.at leider aus: Hier wie dort subsummiert das Kapital unsere Lebensgrundlage (Gesundheit bzw. Sport/Spiel usw.) mit einfachen Marketingtricks: „fake it till you make it“, wie es im orf.at-Artikel treffend heißt. Ob „Sportwashing“ in Katar oder „Greenwashing“ in Sachen Klimaschutz: Der Kapitalismus ist – wie schon gesagt – ungeheuer flexibel und findet immer eine Antwort auf moralische Kritik, die uns vorübergehend zum Schweigen bringt (z.B. eben konkret in Bezug auf die WM in Katar auch die nur rechtliche Aufhebung des Kafala-Systems). Eine gute Portion Kritik ist im Kapitalismus sogar erwünscht, vor allem, wenn Geld damit gemacht werden kann (also zählt wenigstens dieser Artikel nicht dazu). 

Dieser Artikel versteht sich nicht als Erklärer der Mechanismen des Kapitalismus und dessen Subsumption des Fußballs oder anderer sozialer Felder. Er sollte zeigen, dass die moralische Kritik der herrschenden (links-)liberalen Klasse höchstens in Ethikseminaren, und selbst da nur begrenzte Wirkung hat, sofern nicht auch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse berücksichtigt werden und wahre basisdemokratische Verhältnisse diskutiert und angestrebt werden. Genau diese werden von den meisten Medien ideologisch übersehen. Es geht also hier um hegemoniale Verhältnisse, die umgedreht werden müssen. Kapitalismuskritische Diskurse gibt es, vor allem auch in Fankreisen (oft fehlt nur die theoretische Grundlage). Denn wie die Fußball-WM ein paradigmatisches Symptom für viele Missstände der kapitalistischen Gesellschaft, also eine „materielle Verdichtung gesellschaftlicher Verhältnisse“ ist, ist das Fußball-Stadion ein Mikrokosmos unserer Gesellschaft, in dem Potential für Diskurse des Widerstands und der Veränderung auch milieuübergreifend angestoßen werden können.11 Anstoß für Diskussionen während der auch nach der WM zu schauenden Spiele, fürs Stadion oder überhaupt für intensive Lesekreise bietet etwa die Arbeit bzw. Website des kritischen Sporttheoretikers Rafael Molter.12 Seine kürzlich erschienene Monographie spezifiziert Georg Büchners Schlachtruf aus Der Hessische Landbote und bietet eine Parole für alle Fußballfans: „Friede den Kurven, Krieg den Verbänden“ – natürlich innerhalb eines friedlich-demokratischen Diskurses. Sportlich war diese WM jedenfalls ein Leckerbissen – nicht zuletzt auch deshalb, weil so mancher Außenseiter zeigt, dass Widerstand à la David gegen Goliath möglich ist – etwa wenn die Kroaten die Bolsonaristen rund um Neymar nach Hause schicken. Warum sollte das nicht auch politisch und ökonomisch möglich sein? Vor dem Hintergrund des sportlichen Leckerbissens stellt sich abschließend auch die Frage, ob der Boykott irgendetwas verändert hat?

Verweise:
1:  Ein kurze Beschreibung des Ballspiels gibt es hier: http://www.indianer-welt.de/meso/ball/ 
2: Z.B. dieser „Alles-Fahrer“: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1168991.fussball-wm-in-katar-boykott-eines-alles-fahrers.html 
3: Gmünder, Stefan und Zeyringer, Klaus: Das Wunde Leder. Wie Kommerz und Korruption den Fußball kaputt machen. Berlin 2018. S. 45f. (generell gute Analyse der FIFA als neofeudale Institution im Neoliberalismus, letztendlich aber auch stark einer moralischen Kritik verhaftet; in einem Manifest am Ende wird schon der Boykott der WM 2018 gefordert; man sieht: dieses Kritikmodus verläuft im Sand)
4: Folge 1, WM der Schande: https://www.sportschau.de/fussball/fifa-wm-2022/ep1-katar-wm-der-schande-die-vergabe-100.html
5: https://orf.at/stories/3294450/
6: https://lowerclassmag.com/2022/04/25/spektakel-fuer-profit-die-wm-in-katar-und-das-elend-des-marktkonformen-fussballs/
7: https://www.deutschlandfunk.de/deutsch-katarische-wirtschaftsbeziehungen-100.html
8: https://www.akweb.de/gesellschaft/fussball-weltmeisterschaft-katar-boykott-und-das-wars/
9: https://orf.at/stories/3293208/
10: https://orf.at/stories/3294378/
11: https://www.rosalux.de/news/id/49476/wir-koennen-uns-diesen-fussball-nicht-mehr-leisten
12: https://www.raphael-molter.org/

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