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2. „Die PLUS“ – und die Uni der Zukunft

Das alles ist keineswegs neu. Ich persönlich habe die Gedanken, die ich hier im „kleinen Häwelmann“ wiedergefunden (und etwas ironisch mit der Bezeichnung PLUS verbunden) habe, zuerst durch die Lektüre der Bücher von Alice Miller kennengelernt,9 später auch in den Werken von Arno Gruen.10 Beiden Autor:innen geht es um die lebenslangen Folgen von Kindheitstraumata, die nicht nur das Leben des und der Einzelnen beschädigen, sondern die ganze Gesellschaft in einem globalen Sinn. So wird z.B. die Abkehr von sinnlosen und umweltschädlichen Statussymbolen kaum mit moralischen Appellen gelingen, solange wir großen Häwelmänner und -frauen nicht wissen, warum etwas in uns „mehr, mehr!“ ruft. Auch wenn das Vorgehen gegen Hass und Gewalt mehr als eine Floskel sein soll, müssen wir wissen, dass gerade politisch und ideologisch daherkommender Hass – der mehr ist als scharfe Sachkritik, die durchaus emotional sein kann – in aller Regel traumatische Kindheitserfahrungen maskiert. Das zu wissen, bedeutet keineswegs, Gewalttäter:innen – im Großen und im Kleinen – gewähren zu lassen oder zu entschuldigen. Es geht vielmehr darum, die zugrundeliegende Dynamik zu verstehen, um Alternativen aufzeigen und rechtzeitig eingreifen zu können. Gerade in der Wissenschaft würde das bedeuten, dass wir unsere fachlichen Kompetenzen mit Empathie und Mut verbinden – nicht so wie der Mond im „kleinen Häwelmann“, der sich wundert, dass ihm dieser irgendwann über die Nase fährt und er nicht mehr nur Beobachter sein kann. In Alice Millers „Du sollst nicht merken“ ist diese Haltung sehr treffend so wiedergegeben:

[…] wir können mit großer Unverbindlichkeit und intellektueller Kenntnis über die Gemeinheit der sogenannten Gesellschaft schreiben, aber realisieren emotional die Grausamkeit erst, wenn der Stein der rebellierenden Jugend in unsere Fenster schlägt. Dann kann es vorkommen, dass Menschen, die sich hauptberuflich mit der Gesellschaft befassen, die z.B. als Historiker seit Jahren über die Christenverfolgung im alten Rom, über die Kreuzzüge, die Inquisition, die Hexenverbrennung, die unzähligen Kriege unterrichteten, sagen können, dass die Gewalt in unserer Zeit Folge der antiautoritären Erziehung sei.11 Für diese Menschen gibt es Gewalt erst, wenn sie sich gegen sie richtet, weil für sie alles, was sie in der Schule und an der Universität gelernt haben, eine nur abstrakte und keine lebendige Bedeutung hat.12

Einige Fragen zum Schluss: Wie würden sich Geistes- und Kulturwissenschaften verändern, wenn wir wirklich auf der Seite des kleinen Kindes stünden? Wenn wissenschaftliche Erkenntnis mit der Erkenntnis unseres eigenen Prozesses verbunden wäre und wir dafür eine Sprache hätten? Wenn wir Souveränität und Mut leben und vermitteln könnten? Können wir das für unsere Disziplinen durchbuchstabieren? Wie würde sich unser Verständnis von Methodologie und Kanon, aber auch von Leistung, Autorität und Wettbewerb verändern? Wäre das vielleicht sogar eine Neujustierung des Begriffs „humanistisch“, mit dem sich unsere Fächer einmal schmückten?13 Wie können wir die Wertschätzung wahrer, nicht narzisstischer Individualität in unserer Forschungs-, Lehr- und Studienpraxis zum Ausdruck bringen, so dass Leistung und Konformität entkoppelt werden – dass „Häwelmann“ auf allen Karrierestufen nicht mehr vor die Wahl gestellt wird, zu schweigen oder aus dem System zu fallen? Ich glaube, dass es in die Richtung einer bewussteren Reflexion von Kindheit und Kindheitstraumata gehen muss, wenn die universitäre Wissenskultur eine Zukunft haben will.

Susanne Plietzsch ist Professorin für Judaistik an der PLUS (leuchte, alter Mond …) und leitet das Zentrum für Jüdische Kulturgeschichte. In diesem Artikel hat sie sich auf Expedition in die Gebiete der Germanistik, der Psychologie und der Bildungspolitik begeben.

Fußnoten:

1: Vgl. den „Offenen Brief: Heißt unsere Universität jetzt PLUS?“ in der uni:press. Eine öffentliche Antwort darauf hat es meines Wissens nicht gegeben. 
2: Vgl. Heinrich Detering, „Hans Bär“/„Der kleine Häwelmann“ (verf. 1837/1849), 94-96.
3: Als Input zu diesen universitätspolitischen „Dauerbrennern“ möchte ich auf das von Willem Halffman und Hans Radder verfasste „The Academic Manifesto: From an Occupied to a Public University“ hinweisen.
4: Vgl. Marie-France Hirigoyen, Die toxische Macht der Narzissten, 235f. (Die Wurzeln des Narzissmus in der Kindheit diskutiert Hirigoyen ebd., 127-141.)
5: Gemeinfreier Text zum Mitlesen: Siehe Infobox. Für meine Textinterpretation habe ich außer dem in Anm. 2 genannten Handbuchartikel keine Sekundärliteratur konsultiert.
6: Den Begriff der Beschuldigung des Kindes habe ich von der Psychologin Alice Miller (1923-2010) übernommen, vgl. z.B. dies., Du sollst nicht merken, 35; 185. Ein sehr prägnantes Beispiel dafür sehe ich im eingangs genannten Handbuchartikel „Hans Bär/Der kleine Häwelmann“. Obwohl Detering klar benennt, dass Häwelmann mit der Zurückweisung durch die Sonne eine Todeserfahrung macht, schreibt er kurz darauf: „So ist es Häwelmanns Unfähigkeit, seinen Narzissmus zu überwinden, die ihn zugrunde gehen und seine Welt zerbrechen lässt – allerdings nur beinahe“ (ebd., 95). Häwelmann ist ein kleines Kind, er kann „seinen Narzissmus“, sprich: seine Bedürftigkeit, nicht „überwinden“!
7: Von dieser Art der „Normalität“, die er als Anpassung und Verweigerung der vollen Realität entlarvt, schreibt z.B. der Psychoanalytiker Arno Gruen (1923-2015) in „Der Wahnsinn der Normalität. Realismus als Krankheit: eine Theorie der menschlichen Destruktivität“.
8: Vgl. Hirigoyen, Die toxische Macht der Narzissten, 207-209. Hirigoyen ist besonders durch ihr früheres Buch „Die Masken der Niedertracht. Seelische Gewalt im Alltag und wie man sich dagegen wehren kann“, einem breiten Publikum bekannt geworden.
9: Vgl. die Literaturhinweise in der Infobox. – Es darf nicht verschwiegen werden, dass es Miller selbst nicht gelang, ihre Einsichten in ihre eigene familiäre Praxis umzusetzen, wie durch das Buch ihres Sohnes Martin Miller „Das wahre ‚Drama des begabten Kindes‘. Die Tragödie Alice Millers“ 2013 bekannt wurde.
10: Ich möchte besonders „Der Fremde in uns“ erwähnen. (Dieses Buch haben wir im letzten Semester im Forschungsseminar des Masterstudiums Jüdische Kulturgeschichte gelesen und diskutiert.) 
11: Das würde bedeuten, die Ursachen der Gewalt darin zu sehen, dass sie nicht mehr unterdrückt und unsichtbar gemacht wird, S.P. 
12: Miller, Du sollst nicht merken, 291f. (Anpassung an die neue Rechtschreibung: S.P.)
13: Vgl. dazu David M., „Die Universität als gigantische Skinner-Box.“ – Folgender Satz daraus hat mir zu denken gegeben: „Und spätestens seit den Bologna-Reformen ab 1999 macht sich jede*r des Wahnsinns verdächtig, der*die auch nur eine Sekunde daran glaubt, es würden noch Reste von dem vorhanden sein, was man einst unter einem humanistischen Bildungsideal verstand.“ (Vielleicht gibt es doch noch eine Chance?)


Infobox / zitierte Literatur:

Theodor Storm, Der kleine Häwelmann (1849)

Theodor Storm, Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 1, Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1967, 339-342. Text (gemeinfrei): http://www.zeno.org/nid/20005726506

Heinrich Detering, „Hans Bär“/„Der kleine Häwelmann“ (verf. 1837/1849), in: Christian Demandt/Philipp Theisohn (Hg.), Storm-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart: J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung 2017, 94-96.

Universitätspolitik (Salzburg und darüber hinaus)

Willem Halffman / Hans Radder, „The Academic Manifesto: From an Occupied to a Public University“ (Minerva 53/2015, 165-187, open access: https://rdcu.be/cTwPr)

Offener Brief: Heißt unsere Universität jetzt PLUS?, in: uni:press, 3. Juli 2020 

(https://unipress.oeh-salzburg.at/offener-brief-heisst-unsere-universitaet-jetzt-plus).

M., David, Die Universität als gigantische Skinner-Box, in: uni:press, 20. Mai 2022 (https://unipress.oeh-salzburg.at/die-universitaet-als-gigantische-skinner-box)

Psychologie: Arno Gruen, Marie-France Hirigoyen, Alice Miller

Gruen, Arno, Der Fremde in uns, Stuttgart: Klett-Cotta 2000.

Gruen, Arno, Der Wahnsinn der Normalität. Realismus als Krankheit: eine Theorie der menschlichen Destruktivität, München 1993.

Hirigoyen, Marie-France, Die Masken der Niedertracht. Seelische Gewalt im Alltag und wie man sich dagegen wehren kann, München: C.H. Beck 1999.

Hirigoyen, Marie-France, Die toxische Macht der Narzissten und wie wir uns dagegen wehren, München: C.H. Beck 2020.

Miller, Alice, Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst, Frankfurt: Suhrkamp 1979. (Ab 1994: Das Drama des begabten Kindes. Eine Um- und Fortschreibung.)

Miller, Alice, Du sollst nicht merken. Die Realität der Kindheit und die Dogmen der Psychoanalyse [1983], Frankfurt: Suhrkamp 122012.

Miller, Alice, Evas Erwachen. Über die Auflösung emotionaler Blindheit, Frankfurt: Suhrkamp 2001.

Miller, Martin, Das wahre „Drama des begabten Kindes“. Die Tragödie Alice Millers, Freiburg: Herder 2013.


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