Von Marion Sauer.
Der geflochtene Einkaufskorb in ihrer rechten Hand streifte die Wand des Gebäudes neben ihr, als sie einen Schritt zur Seite trat, um der entgegenkom- menden Person auszuweichen. Ein schneidend kalter Wind schien in den letzten Tagen ein ständiger Begleiter zu sein. Nun hatte er auch den Hartnäckigsten davon überzeugt, dass der warme Sommer vorbei war und dem kälteren nassen Herbst Platz gemacht hatte, denn schon seit dem Morgen fegten die Böen einsame Blätter über den Asphalt, die die Bäume in dem kleinen Park wenige Meter entfernt verloren hatten. Sie war gezwungen, ihren Hut mit der freien Hand festzuhalten, um ihn nicht vom Kopf gefegt und die Straße hinunter nachjagen zu müssen. Leicht zitternd zog sie fester an ihrer dünnen Jacke, um die aufkommende Kälte draußen zu behalten, und beschleunigte ihre Schritte, den Blick konzentriert auf den Boden vor ihr gerichtet. Sie hätte auf ihre Mutter hören und den wärmeren Mantel anziehen sollen, doch in dem Punkt war sie wie viele in ihrem Alter – sinnlos rebellisch und dickköpfig, und jetzt musste sie mit den Konsequenzen leben.
Aufgeregtes Stimmengemurmel ließ sie neugie- rig den Kopf heben. Auf der anderen Straßenseite hatte sich eine kleine Gruppe an Menschen versammelt, die sich angeregt über etwas zu unter- halten schien. Der Wind trug einige Gesprächsfetzen zu ihr, und auch wenn ihr schon von klein auf beigebracht worden war, wie unhöflich es war, andere zu belauschen, tat sie nun genau das. „…ist wirklich eine Schande, dass ich nicht dabei war“, meinte ein etwas älterer Mann, sein langer schwar- zer Mantel reichte ihm bis zu den Knöcheln. Den farbig passenden Hut hatte er sich unter den Arm geklemmt, während er sich abwesend mit der Hand durch die kurzen Haare fuhr, eine Eigenart, die sie noch nie bei Menschen verstanden hatte. Es war schwer, über die Distanz die gesamten Sätze zu verstehen, aber die bekam das Wichtigste mit. „Du weißt doch… keine Überraschung, oder?“, ant- wortete ihm die junge Frau, die neben ihm stand, während sie in ihrer kleinen dunkelbraunen Leder- tasche nach etwas suchte. „…du bis heute Nachmittag… mehr, du wirst schon sehen.“ Ein kleiner untersetzter Mann, der bis jetzt von den restlichen Personen verdeckt gewesen war, trat zu dem Mann in dem langen Mantel, den sie in ihrem Kopf einfach Bowler-Mann getauft hatte. Der Spitzname ließ sie schmunzeln. Er hörte sich an, als hätte sich ihn Le- wis Carroll höchstpersönlich ausgedacht, um ein weiteres Mitglied seiner Nicht-Geburtstags-Feier hinzuzufügen. „…Feuer? Ich habe meines zu Hause vergessen?“ Die junge Frau, die zuvor noch in ihrer Handtasche herumgekramt hatte, hatte nun ein schwarzes Etui herausgezogen und tippte das Ende einer Zigarette einige Male gegen den Deckel, bevor sie sie zwischen die leuchtend roten Lippen nahm und sich dem untersetzten Mann zuwandte, der ihr ohne zu zögern Feuer gab. „Jedenfalls sollten wir… wenn es so weit ist“, meinte sie und blies Zigarettenrauch in die Luft, der als kleine wabernde Wolke über der Gruppe aufstieg. Bowler-Mann erwiderte etwas, doch in diesem Moment ratterte eines der grünen Lieferautos an ihr vorbei und versperrte kurzzeitig die Sicht auf die andere Straßenseite. Sie blinzelte einige Male, bevor sie seufzend den Kopf schüttelte. Ein Blick auf die große Uhr des Kirchturms, der über der Häuserzeile weiter vorne emporragte, ließ sie leise fluchen. Es war kurz vor elf Uhr. Wenn sie sich nicht beeilte, würde sie eine gehörige Standpauke von ihrer Mutter riskieren. Schnell straffte sie ihre Schultern und warf einen letzten Blick auf die Gruppe von Menschen auf der gegenüberliegenden Straßenseite, bevor sie ihre Schritte beschleunigte und ihren Weg fortsetzte. Der untersetzte Mann hatte sich mittlerweile eben- falls eine Zigarette angezündet und paffte Rauch in die kalte Herbstluft. Gerade als sie die Hausecke mit dem kleinen Café erreicht hatte, in dem ihrer Großmutter ihr am Sonntag nach der Kirche immer einen Berliner gekauft hatte, ließ sie ein überraschter Aufschrei hinter ihr herumwirbeln. Die Gruppe an Menschen, die sie zuvor so schamlos belauscht hatte, starrte nun mit weit aufgerissenen Augen in ihre Richtung. Bowler-Mann hatte seinen Hut fallen lassen, der nun umgedreht zu seinen Füßen am Boden lag, und starrte perplex die Straße hinunter. Die junge Frau hatte noch immer ihre Zigarette zwischen den Lippen, auch wenn das Ende jetzt nur schwach vor sich hin glimmte, da sie in ihrer Überraschung vergessen hatte, daran zu ziehen. Der Gesichtsausdruck des untersetzten Mannes war eher verwirrt, als er zwischen seinen beiden Kumpanen hin- und herblickte und dann ebenfalls in ihre Richtung starrte. Zuerst dachte sie, sie selbst wäre der Grund für den Aufruhr, und strich sich nervös über die Falten ihres Kleides. Doch dann bemerkte sie den Mann in Soldatenuniform, der auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand und sich gerade aufzurichten schien. Hinter ihm war der Stacheldrahtzaun, der durch die gesamte Stadt verlief und dieses Viertel wie auch viele andere von den Angrenzenden trennte. Sie waren beinahe auf gleicher Höhe, keine zehn Meter voneinander entfernt, und nur der Zaun zwischen ihnen. In ihrer Bewegung erstarrt, beobachtete sie, wie der Soldat sich etwas Staub von seiner Uniform klopfte, be- vor er das Gewehr, das er über der rechten Schulter trug, richtete und unbeeindruckt seinen Weg die Straße hinunter fortsetzte. Nun musste auch sie überrascht blinzeln. Es war ein ungeschriebenes Gesetz. Jeder blieb in seinem Stadtteil, jeder blieb auf seiner Seite des Zauns. War er etwa einfach hinübergesprungen?
Inspiriert durch die Fotografie „Sprung in die Freiheit“ von Peter Leibing