Während Annie Ernaux‘ Bücher sich aktuell rekordmäßig verkaufen, kennt kaum jemand ihre Vorgängerin. Tove Ditlevsen schuf mit ihrer „Kopenhagen-Trilogie“ einen unverzichtbaren Schatz für die Autofiktion.
Von Annemarie Aigner
Eine heimlich durchgeführte traumatische Abtreibung in den 1960ern. Die rezente Verfilmung von Annie Ernaux‘ „Das Ereignis“ gewann damit 2021 den Goldenen Löwen in Venedig. Eines von vielen gesellschaftskritischen Themen, die nirgendwo besser als in autofiktionalen Werken aufgegriffen werden können. Doch wie persönlich, wie ehrlich dürfen Autor:innen sein?
Die dänische Autorin Tove Ditlevsen vertrat zeit ihres Lebens die Ansicht, beim Schreiben auf niemanden Rücksicht nehmen zu müssen. So leuchtet ihre Kopenhagen-Trilogie, die in den 1920ern mit ihrer Kindheit im Arbeiterviertel beginnt, gefolgt von ihrer Jugend und der Abhängigkeit im Erwachsenenleben, schonungslos zeitlose Persönlichkeitstiefe aus.Die Kindheit als zu überstehende Krankheit
Ditlevsens Leben beginnt in einer ärmlichen Hinterhauswohnung eines Arbeiterviertels zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Kopenhagen. Der durch und durch sozialistische Vater, häufig arbeitslos, verbringt seine Tage voll Resignation auf der Couch. Während sich die Mädchen bei den Mülltonnen im Hof versammeln, um über diejenigen unter ihnen zu lästern, die es nicht geschafft haben, erst mit über achtzehn zu gebären, verbringt Tove ihre Zeit mit Lesen und dem Verfassen von Gedichten. „…ich träume immer davon, einen geheimnisvollen Menschen zu treffen, der mir zuhört und mich versteht. Ich weiß aus Büchern, dass es solche Menschen gibt, aber kein einziger davon lebt in der Straße meiner Kindheit.“, schreibt sie in ihrem ersten Band Kindheit. Das Schreiben ist ihr Anker, ihre Rettung vor der Realität, in der sie nicht aufs Gymnasium gehen darf und stattdessen bis zur Heirat einen ihr lästigen Job als Hausmädchen annehmen soll. Sie weiß, sie muss die Kindheit durchstehen, um endlich als Erwachsene ein eigenes Zimmer für sich zum Schreiben zu haben.
Traum von der Flucht
Früh steht für sie fest, dass sie der Enge ihres Milieus entkommen und Dichterin werden will. Was, wie ihr ihr Vater schon früh mitteilt, für Frauen nicht möglich sei. Dennoch besitzt sie einen eisernen Glauben an sich selbst. In ihrem zweiten Band Jugend zieht sie zu ihrem achtzehnten Geburtstag aus – wenn auch in die kalte Wohnung einer Nazi-Fanatikerin. Während sie zunächst nur Hochzeits- und Konfirmationsgedichte für Arbeitskolleg:innen verfasst, beschließt sie, trotz fehlender eigener Erfahrungen, ein Gedicht über eine Totgeburt zu verfassen. Sie will polarisieren und raus aus der stupiden Enge ihres Alltags. Und das gelingt ihr! Denn sie erregt das Interesse des Journalisten Viggo F. Møller, welchen sie kurzerhand heiratet. Wohl sieht sie in ihm – einen Mann, der älter als ihre eigene Mutter ist – jenen sie verstehenden Menschen, den sie sich ihre Kindheit lang gewünscht hat. Zwar verhilft er ihr zu weiteren Publikationen, jedoch findet sie sich mit Anfang zwanzig in einer sex- und kinderlosen Ehe wieder, der sie nach kurzer Zeit wieder entflieht. So gründet sie mit einem mittellosen Studenten, den sie diesmal aber liebt, eine Familie. In dieser Ehe kommt es in der zweiten, ungewollten Schwangerschaft jedoch zur Entfremdung, die sie eindrucksvoll beschreibt:
„Inzwischen gehören die Männer nicht mehr zu meiner Welt. Sie sind fremde Wesen von einem anderen Stern. Sie haben noch nie etwas in ihrem eigenen Körper gespürt. Sie besitzen keine zarten, weichen Organe, in denen sich ein Schleimklumpen wie eine Geschwulst einnisten und ein eigenes Leben führen kann, vollkommen unabhängig von ihrem Willen.“
Sie treibt ab – ein schwieriges Unterfangen in Kopenhagen während des Zweiten Weltkriegs. Trotzdem ist die Ehe nicht mehr zu retten, sie betrügen sich beide gegenseitig, wobei Tove sich bei einer erneuten Schwangerschaft nicht sicher sein kann, von wem das Kind ist.
Vergiftete Jahre
Diese Abtreibung gelingt leichter, der mögliche Vater ist Arzt. Für den Eingriff verabreicht er ihr erstmals Narkotika. Diese werden sie an ihn binden, all die anderen ohne Methadon werden ihr gleichgültig. Folglich verlässt sie ihren Ehemann, zieht mit ihrer Tochter zu dem psychisch kranken Arzt und gründet eine zweite Familie mit ihm. Ihr dritter Band Abhängigkeit ist von der Medikamentensucht und der verzweifelten Suche nach Liebe gekennzeichnet. Ditlevsen zeigt sich radikal ehrlich und maximal unsympathisch. Schließlich beschließt sie nicht allein ihrer Kinder, sondern vor allem ihrer noch ungeschriebenen Bücher wegen, der Sucht ein Ende zu setzen.
Tove Ditlevsen versagt es einem, zu interpretieren. Sie gibt sich vollkommen preis, ohne Anspruch darauf, sympathisch zu erscheinen. Sie schreibt teils feministisch, lebt es aber nicht. Sie ist real und in den Momenten ist sie den Leser:innen ganz nah.