Karl Mags
Ein Polemik gegen den Zeitgeist, der auf der School of Education herrscht I
Der Weg, bis man über eine universitäre Laufbahn zur Berechtigung kommt, Sekundarstufen-Lehrer zu sein, ist lange. Mit sechs Jahren liegt die Mindeststudienzeit zum Beispiel über jener des Medizinstudiums. Insofern muss man sich die Frage stellen, wie effektiv und sinnvoll diese lange Zeit von der Universität gestaltet wird – dazu eine kleine Geschichte.
Es war einmal vor ein paar Jahren, da ging ein frisch inskribierter und motivierter Lehramtstudierender in eine der Bildungskathedralen Salzburgs, eine jener Institutionen, die die Stadt neben den sakralen Einrichtungen prägen. Salzburg gilt insofern als Universitäts- und Kirchenstadt. Ob es auch eine höchst attraktive Student*innenstadt ist, könnte und müsste man an anderer Stelle diskutieren. Was aber möglicherweise deutlich werden wird, sind Gründe, warum es nicht die attraktivste Stadt für junge sich entwickeln und emanzipieren wollende Student*innen ist. Aber zurück zum Kern dieser Geschichte: Dass ein Teil der Uni, explizit jener der Lehramtsausbildung, einen ähnlichen Fetischismus pflegt, wie die hier so dominante Glaubensgemeinschaft, fiel dem jungen Mann relativ bald auf. Spätestens nach den ersten paar Sitzungen in Lehrveranstaltungen der sogenannten „School of (no?) Education“, wo er – um dazuzugehören – folgendes „Glaubensbekenntnis“ immer wieder nachsagen musste:
„Ich glaube daran, dass jedes Kind gleich, aber einzigartig ist, voll von Begabungen und Talenten, die entdeckt und gefördert werden können; ich glaube daran, dass jedes Kind kreativ und innovativ ist und nur durch ein schlechtes Schulsystem daran gehindert wird, selbst alles zu entdecken, was es zu entdecken gibt; ich glaube dass jedes Kind am besten selbst weiß, was und wie es lernen will; ich glaube an die Segnungen der Digitalisierung, die es jedem erlaubt, jederzeit alles zu lernen und alles zu wissen; ich glaube deshalb, dass die Belastung des jugendlichen Gedächtnisses mit Wissen unnötig, ästhetische Kanons ein Übel, Inhalte verwerflich und Frontalunterricht des Teufels ist; ich glaube an den Lehrer als Coach, als Begleiter, als Berater, der sozial kompetent im Hintergrund autonomer Lernprozesse lauert und dem nur eines verboten ist: zu lehren. Ich glaube an Teams, an Projekte, an Kommunikation. Ich glaube an die Heilige Dreifaltigkeit von Kompetenzorientierung, Individualisierung und Standardisierung.“
Es vergingen seither ein paar Jahre und beinahe am Ende seiner Ausbildung kann der nun sich fast Master of (no?) Education nennende Erwachsene eine kritische Reflexion anstellen. Im ersten Satz des obigen Zitats von Konrad Paul Liessmann steckt schon einiges von einer ökonomischen Ideologie, die wahrscheinlich längst den österreichischen Bildungsbereich erobert hat. Angelsächsische Ideologien wie (Neo-)Liberalismus, „American Dream“ und vor allem die Religion des Silicon Valley werden immer mehr verankert. Die Lehramtsausbildung tut da ihr Übriges.
Es sind demnach alle Kinder, Jugendliche, Erwachsene oder eben Student*innen gleich und jede/r kann, wenn er/sie den nötigen Fleiß aufbringt, seine/ihre Begabungen und Talente entfalten und als Karrierist ganz nach oben kommen – am besten als Teil der sich derzeit unter enormen Tempo entfesselnden Kräfte des globalen Finanzwesens und der Digitalbranche. Für Lehrende geht es nur noch darum, diese für die meisten aussichtslose Suche zu begleiten und den damit verbunden Traum oder die Illusion aufrechtzuerhalten. So oder so ähnlich wird man in den ersten paar Uni-Kursen am Fachbereich Pädagogik indoktriniert und vieles, was hier geschrieben steht, wird natürlich nicht besprochen. Die Indoktrinierung ist hier deshalb der passende Terminus, weil kognitiv und reflexiv von solchen Kursen meist nicht viel hängen bleibt. Alles was bleibt, ist ein Credo, dem man folgen muss, das aber umgekehrt von der sogenannten „School of (no?) Education“ nur bedingt gelebt wird. Es stimmt, dass von den Lehrveranstaltungsleiter*innen, die fast immer sehr nett sind, meist ein sehr lockerer Rahmen bei Lehrveranstaltungen geboten wird und die Idee von der Entfaltung der einzigartigen Begabungen der Student*innen könnte in dieser oft sehr niedlich wirkenden Atmosphäre, die meist einem der entzückenden, einladenden Büros bei Google oder Apple gleicht, tatsächlich realisiert werden. Der Lehramtstudierende hat aber nach fast sechs Jahren Studium nur mehr sehr vage Erinnerungen an Pädagogik-Kurse vom Anfang des Studiums. Meist fallen ihm nicht einmal mehr die LV-Titel ein (ein kürzlich erlebtes Ausnahmebeispiel, an das sich der Lehramtstudent nur deshalb erinnern kann, weil es an Sinnlosigkeit nicht zu überbieten ist, ist eine LV mit dem Titel „Unterrichts- und Schulentwicklung“, wo man hauptsächlich lernt, wie man ein privatwirtschaftliches Unternehmen führt und möglichst effizient macht; um den Beruf des Lehrers geht es hier fast gar nicht mehr).
Nun könnte man behaupten, das liege an der großen Zeitspanne, die dazwischen liegt. Tatsächlich ist es aber so, dass mittlerweile auch Inhalte aus dem letzten Semester in Vergessenheit geraten sind. Er hat auch mit Mitstudierenden gesprochen und sehr oft ähnliche Berichte erhalten. Das ist also der Beweis par excellence dafür, dass in den Kursen dem oben zitierten Glaubensgrundsatz, dass „die Belastung [nicht nur] des jugendlichen Gedächtnisses mit Wissen unnötig“ ist, Folge geleistet wird.
Warum ist das so schade? Die Unterrichtsfächer, für die sich Lehramtstudent*innen entschieden haben, weil sie daran interessiert sind und sich dafür begeistern können, kommen durch die enorme Zeitverschwendung im Zuge der pädagogischen Fächer zu kurz. Lehrende der Unterrichts-Fachbereiche, die sehr oft auch wirklich Wissen vermitteln und fordern, beklagen die mangelnde Zeit für tatsächlich relevante Inhalte immer wieder explizit (Seitennote: Es wäre jedenfalls genug „ECTS-Müll“ zum Shreddern vorhanden, wenn man sich den Bereich „Bildungswissenschaftliche und pädagogisch-praktische Ausbildung“ aus den Lehramt-Curricula einmal ansieht). Diese den Titel Professor*in meistens zu Recht innehabenden Lehrenden bringen selbst auch viel erstaunliches Wissen mit – also das, was man in der aktuell verbreiteten Vorstellung von Bildung ja nicht mehr erwerben und weitergeben darf. Sollte man als Lehrer*in nicht etwas wissen und auch Wissen von den Schüler*innen einfordern dürfen? Ist es wirklich die beste aller vorstellbaren Welten, dass wir Menschen nur noch über die sogenannten „Kompetenzen“ verfügen, digitale Geräte bedienen zu können und damit das Denken mehr und mehr komplett an elektronische Hardware abzugeben?
Das Bildungsbudget für das Jahr 2022 bezeugt diese bildungspolitische Marschrichtung zusätzlich und zeigt die primär eigentlich nicht intendierte Verschränktheit von Politik und Bildung auf. Ein zentraler Punkt im neuen Budget des mit der Wirtschaft zutiefst „verbandelten“ Finanzministers ist die sogenannte „Digitalisierungsoffensive“. Dieser glaubt wahrscheinlich, dass so dringende Dinge wie der flächendeckende Ausbau der Nachmittagsbetreuung auch durch das Tablet, mit dem sich Kinder und Jugendliche ja ohnehin zu wenig beschäftigen, kompensiert wird. Die kürzlich erschienenen Chats rund um den ehemaligen Bundeskanzler Kurz haben sehr deutlich enthüllt (es wurde ein milliardenschweres Finanzpaket für die Kinderbetreuung torpediert), dass der Computer und damit verbundene Kapitalinteressen der Parteifreunde wichtiger sind als die Menschen. Dieser neoliberalen Offensive (der Staat greift nur ein wo es nötig und „wichtig“ ist) sollen wir total unreflektiert folgen. Im Master gibt es auch einen dazu passenden Propagandakurs: „Digitale Grundbildung“.
Von Bildung kann hier nicht die Rede sein und damit zurück zum Credo der Entdeckung und Förderung der Begabungen jedes Einzelnen. Es wurde ja einerseits klar, dass die Kurse, die dem Glaubensbekenntnis durchaus gerecht werden, wenig erfolgreich sind. Andererseits steht zudem die curriculare Struktur des Lehramtstudiums in diametralem Gegensatz zur freien Entfaltung des Individuums. Es wurde darüber hinaus bereits erwähnt, dass zu wenig Zeit für die so wichtigen und zu kurz kommenden Unterrichtsfächer bleibt. Die Geschichte hat bekanntlich gezeigt, dass von Studierenden ernstzunehmendes revolutionäres Potential ausgehen kann. Wer sich aber den Studienplan von Lehramtstudent*innen ansieht, wird sich schnell der enormen Dichte an sogenannten „prüfungsimmanenten Lehrveranstaltungen“ bewusst. Für Revolution bleibt da nicht viel Zeit. Man muss ja auch noch arbeiten, damit man für die ständig drohenden Studiengebühren (ein weiteres Anzeichen der Amerikanisierung) vorsorgen kann. Es muss gar nicht die Revolution sein, für die man sich Zeit nimmt.
Im Falle des Lehramtstudierenden dieser Geschichte reicht auch schon ein kritischer Artikel für die Studentenzeitung, den er ständig aufschieben musste. Das aus Kalifornien importierte Arbeiten in „Teams“ und an „Projekten“ frisst schon einiges an Zeit, die man sinnvoller nutzen könnte. Summa summarum bleibt von der aufwendigen Saat nicht viel Ernte übrig – außer das selbst im Schlaf ständig abrufbare Bildungsglaubensbekenntnis. Wie geht es also weiter für den angehenden Lehrer mit dem Titel des Master of (no?) Education? Fühlt er sich sicher und bereit für den bevorstehenden Unterricht? Für ein bisschen Coaching und Begleitung bei der Selbstverwirklichung der Schülerinnen und Schüler wird es jedenfalls schon reichen. Aber was haben die Schüler*innen davon?