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Seit Ende Februar – nach dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine – ist der Osten Europas in der medialen Berichterstattung präsent wie noch nie. Dabei fungiert dieser Angriffskrieg oft als Projektionsfläche für die eigenen Ressentiments und Osteuropa-Romantik und verschleiert wie wenig Wissen über die Kultur, Literatur  und Geschichte der Ukraine eigentliche vorhanden ist. Mariya Donska, Slawistin an der Universität Graz, hat sich für die uni:press Zeit genommen einen Einblick in die zeitgenössische ukrainische Literatur zu geben.

Von Mariya Donska

Das Jahr 1991 bedeutete für die Ukraine nicht nur einen politischen Umbruch und das Erlangen der lang ersehnten Unabhängigkeit, sondern auch den Beginn einer neuen literarische Epoche. Dies hatte einerseits mit dem Wegfall des obligatorischen sowjetischen Kanons, der hauptsächlich aus den parteitreuen Werken im Stil des sozialistischen Realismus bestand, einerseits der allgegenwärtigen sowjetischen Zensur zu tun.

Die zeitgenössische ukrainische Literatur – sučasna ukrajins’ka literatura – musste sich nach 1991 sowohl stilistisch als auch thematisch neu erfinden. Sie hat ausgelotet, was auf Ukrainisch überhaupt beschreibbar ist – und hat aktiv früher tabuisierte historische, sozialkritische oder intime Themen aufgegriffen. Sie hat sich dabei auf eine verdrängte Tradition gestützt – die Dichter und Schriftsteller der ukrainischen Avantgarde der 1910er-Jahre und der so genannten rozstriljane vidrodžennja (der ‚erschossenen Renaissance‘) der 1920 und 30er-Jahre wie Mychajl’ Semenko, Mykola Chvyljovyj, Mykola Zerov oder Bohdan-Ihor Antonyč.

Frech, interessant, erfinderisch, epatierend und gleichzeitig traditionsbewusst – so kann man den Geist der zeitgenössischen ukrainischen Literatur beschreiben. Wir präsentieren Ihnen einige Werke der ukrainischen Literatur aus den letzten dreißig Jahren, die in deutscher Übersetzung vorliegen. Die Auswahl wurde nicht repräsentativ, sondern nach Lust, Laune und Liebe zur ukrainischen Literatur so zusammengestellt, dass sie verschiedenen Geschmäckern gerecht werden kann. Wir lassen zwei Metren – die legendären Juri Andruchowytsch und Oksana Sabuschko, die den Leser*innen vielleicht bereits ein Begriff sind, – beiseite und widmen unsere Aufmerksamkeit weniger bekannten Autoren. Dabei präsentieren wir sowohl die ukrainisch- als auch die russischsprachige ukrainische Literatur. Namen werden entsprechend der auf den Titelseiten der Bücher zu findenden Transkription wiedergegeben. 

Taras Prochasko Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen (З цього можна зробити кілька оповідань)

Wie beginnen mit einem viel zu wenig bekannten Meisterwerk von Taras Prochasko, das 2005 in L’viv und 2009 in deutscher Übersetzung von Maria Weissenböck in Edition Suhrkamp erschienen ist. In ihm geht es um die Wiederentdeckung der eigenen Geschichte. Der Protagonist stammt – wie der Autor selbst – aus Ivano-Frankivs’k, früher Stanislav. Die Erzählungen zeigen, wie durch die Oberfläche einer ukrainischen Stadt Spuren von Polen und Österreich-Ungarn stark durchschlagen und wie genuin europäisch doch die Ukraine ist. Im Buch wird das lustige und verrückte Leben in der Westukraine der 1990er-Jahre gezeigt, mit langen Partys und wenig gutem Kaffee, Ausflügen in die Karpaten, Nebenjobs in Bars, immer wenig Geld und immer viel Lebensfreude. Stilistisch meisterhaft in knappen bildhaften Sätzen – ein must read, um die Ukraine in den ersten Jahren der Unabhängigkeit besser zu verstehen.

Serhij Zhadan Antenne (Антенна) und Mesopotamien (Месопотамія)

Serhij Zhadan ist ein Superstar der ukrainischen Literatur und wurde vor Kurzem von der Polnischen Akademie der Wissenschaften für den Literaturnobelpreis nominiert. Der in Charkiw lebende Schriftsteller, Musiker und Journalist ist derzeit als Freiwilliger tätig und hilft der Armee und den Zivilisten in der Stadt. Seine Gedichte haben eine unglaubliche Genauigkeit und Strahlkraft, die sie zu Schlüsseltexten einer ganzen Generation machen. Junge Menschen in der Ukraine lernen die Gedichte auswendig und finden sich zu Tausenden bei Lesungen ein. 2014 thematisiert Zhadan immer wieder Krieg oder Flüchtlingsein, wie etwa auch in der Sammlung Antenne. Dabei sind seine Schilderungen nie banal, sondern immer pointiert und mitreißend, mit herzbeklemmenden Geschichten – eines Priesters im Krieg, eines Freiwilligen, von Frauen in umkämpften Städten. Der Rückgriff auf traditionelle Formen mit Metrum und Reim macht die Übersetzung dieser Gedichte zu keiner einfachen Aufgabe, welche Claudia Dathe aber gut meistert. 

Im Roman Mesopotamien geht es um die Stadt zwischen zwei Flüssen, die Stadt Charkiw, die Zhadan innig liebt. Es geht um Geschichten mehrerer Helden, die einen Sommer lang durch den Handlungsort – das Zentrum der Stadt Charkiw – verbunden sind. Sie treffen sich, schlendern durch die Stadt, machen Geschäfte, werden durch zufällige Schüsse getötet, rauchen am Balkon, lieben sich, fahren mit dem Nahverkehr, feiern Hochzeitspartys. Ein Roman zum Eintauchen in die Welt Charkiws im Sommer.

Yevgenia Belorusets Glückliche Fälle (Щасливі падіння)

Das Buch von Belorusets, das 2018 in der Ukraine und 2019 auf Deutsch bei Matthes und Seitz herauskam, besteht aus mehreren Kurzgeschichten. Die Geografie umfasst den Osten der Ukraine (Doneck, Antracit, Slavjansk, Marganec – zum Teil Schauplätze des Kriegs seit 2014) sowie unterschiedliche Bezirke und Straßen von Kyiv. Die meisten Protagonistinnen sind Frauen – eine Floristin, eine Nagelstylistin, eine Verkäuferin im Edelsteinstudio, eine Hebamme, viele Putzfrauen oder sogar eine Wahrträumerin. Das Buch ist einerseits sehr feinfühlig, weil es sehr nah an den Alltag der Menschen und ihre Verletzlichkeit in den Zeiten des Kriegs heranzoomt, andererseits zum Teil absurd, mit unerklärlichen Momenten und Verwandlungen, wo in diesen Alltag plötzlich das Wunderbare hineinbricht. Eine Besonderheit ist, dass das Buch Russisch und Ukrainisch kombiniert und mehrere Bilder aus zwei fotografischen Serien der Autorin enthält. Das sind schwarz-weiße Fotografien, die in das Layout des Buches integriert werden, wie etwa bei W.G. Sebald. Es sind aber keine direkten Illustrationen zu den Erzählungen, vielmehr treten diese in ein dialogisches Verhältnis zu ihnen. Interessanterweise wurden diese Fotos an unterschiedlichen Orten in der Ukraine, sowohl im Westen als auch im Osten, aufgenommen. Gerade dieser Dialog der Medien sowie die Bandbreite von Stimmen, von kleinen, unscheinbaren Menschen und Situationen macht die Darstellung der Ukraine nach 2014 sehr überzeugend.

Juri Wynnytschuk Im Schatten der Mohnblüte (Танґо смерті)

Der Roman von Juri Wynnytschuk widmet sich – wie auch Sofija Andruchowytschs Papierjunge – einer historischen Realität, nach der viele in der Ukraine Sehnsucht verspüren. Ein Ukrainer, ein Deutscher, ein Pole und ein Jude leben im multikulturellen L’viv – Lemberg – der 1930er-Jahre. Das Leben ist voller skurriler und lustiger Figuren und Begegnungen, Kulturen und Sprachen verflechten sich und existieren friedlich nebeneinander. Mit der Ankunft der Sowjets 1939 und der Nazis 1941 wird das Geschehen zunehmend tragischer. Der Originaltitel – Todestango – bezieht sich auf die Melodie, die im jüdischen Ghetto der Stadt L’viv von einem Häftlingsorchester gespielt wurde. Der Roman erschien 2012 in Chrakiw und 2014 beim Haymon Verlag in Innsbruck in der Übersetzung von Alexander Kratochvil. 

Boris Chersonskij Familienarchiv (Семейный архив)

Das in Moskau 2006 und in Österreich 2010 in der Übersetzung von Erich Klein und Susanne Macht erschienene Buch besteht aus Gedichten, die gemeinsam eine facettenreiche Geschichte erzählen – die Geschichte einer großen jüdischen Familie im 20. Jahrhundert. Die Bandbreite der Orte erstreckt sich von Hamburg über Odessa nach Sibirien. Der Großteil der Handlung passiert aber in der Ukraine: eine wundersame Rettung von Nazideutschen oder das nicht näher beschriebene Verschwinden in dieser Zeit, Exil, Krankheiten, schwieriges Familienleben, seltene berufliche Erfolge und Verlust der jüdischen Identität. Neben der Beschreibung der einzelnen Schicksale einer weit verstreuten Familie werden Fotografien und Gegenstände einer Auktion jüdischer Kultgegenstände und aphoristische Gespräche der jüdischen weisen Männer beschrieben. Eine schonungslose poetische Darstellung des 20. Jhs., das den bereits mehr als fünfzigjährigen Autor schlagartig populär machte. Der in Odess(?)a lebende Boris Chersonskij schreibt nach 2014 auch auf Ukrainisch und wurde zu einer wichtigen intellektuellen Stimme mit einer klaren proukrainischen politischen Position. 

Tanja Maljartschuk Biografie eines zufälligen Wunders (Біографія випадкового чуда)

Lena ist ein kleines Mädchen aus der ukrainischen Stadt San Francisco – in der Ivano-Frankivs‘k zu erkennen ist. Aus der Sicht eines Schulmädchens und später einer Studentin wird die unerträgliche Realität der neunziger Jahre mit Armut, Ungerechtigkeit und Gewalt gezeigt. Lena wehrt sich und setzt sich für andere ein – mit viel Empathie und Mut. Zum Beispiel geht es um eine Freundin von Lena mit dem Spitznamen Hund, die ihre Beine nicht mehr spürt. Sie hat kein Geld, um einen Rollstuhl zu kaufen. Um einen vom Staat zu bekommen, muss sie zu einer medizinischen Begutachtung erscheinen, die im fünften Stock ohne Aufzug stattfindet. In dem 2012 publizierten Buch wird hart mit der Realität einer ukrainischen Provinzstadt abgerechnet, die Sprache ist grotesk und witzig. Tanja Maljartschuk lebt mittlerweile in Wien und ist Preisträgerin des Ingeborg Bachmann-Preises von 2018.

Stanislav Aseyev Geschichte des Konzentrationslagers in Donbass 2017–2019 (Світлий шлях: історія одного концтабору). 

Das letzte hier zu präsentierende Buch ist dokumentarisch. Der in Donec’k geborene Journalist Aseyev wird 2017 verhaftet, da er eine unabhängige Berichterstattung leistete. Er beschreibt unmenschliche Folter, unter anderem mit starken Stromschlägen, Schlaflosigkeit, sexualisierter Gewalt, denen er und andere Häftlinge im Gefängnis Izoljacija in Donec’k ausgesetzt waren. Die komplette Willkür der sadistischen Untersuchungsrichter, völlige Rechtslosigkeit, Demütigung und Angst herrschen dort. Er versucht zu überleben, um zu berichten, und kommt schließlich 2019 im Rahmen eines Gefangenenaustauschs frei. Dieses Buch ist ein wichtiger Einblick in die Vorgeschichte des großflächigen Angriffs Russlands auf die Ukraine. Durch die Lektüre dieses Buchs wird klarer, warum die Ukraine nicht kapitulieren kann – die Gewalt wird dadurch nicht gestoppt, eine Okkupation bedeutet Rechtslosigkeit, Folter und ungestrafte Misshandlungen und Tötungen von Zivilist*innen. 

Abschließend ist auf zwei herausragende Bücher hinzuweisen, die auf Deutsch geschrieben wurden, aber mit der Ukraine unmittelbar zu tun haben: Dmitrij Kapitelmans Eine Formalie in Kiew und Katja Petrowskajas Vielleicht Esther. Für Letzteres bekam Petrowskaja 2013 den Bachmann-Preis. Die in Deutschland lebenden jüdischen Protagonisten der beiden Bücher werden mit ihrer Kyiver Familiengeschichte konfrontiert und reflektieren über (ihre) Wurzeln, Sprache und Gedenken. 

Dies ist nur ein Bruchteil der auf Deutsch verfügbaren ukrainischen Literatur. Wir wünschen Ihnen schöne Entdeckungen. Auf dass in nächster Zeit keine Gewalt mehr in der Ukraine herrscht – außer Wortgewalt.

Über die Autorin:
Dr. Mariya Donska ist Slawistin an der Karl-Franzens-Universität Graz und lehrt dort unter anderem Ukrainisch und Russisch. 

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