Von Hannah Wahl und Bernhard Landkammer
Manche Kulturformen sind einfach für einen Medientransfer bestimmt. Waren Musicals seit ihrem Anfang in den 1920er Jahren zunächst noch im Theater beheimatet, eroberten sie in Form von Adaptionen und eigenständigen Filmen schnell die Leinwand.
Der Formenreichtum dieses Genres scheint dabei unbegrenzt. Für die einen sind bereits von musikalische Einlagen geprägte Disney-Filme Musicals. Andere verstehen darunter Broadway-Adaptionen wie “The Phantom Of The Opera”, während manche ganz auf musikalische und modernisierte Variationen von historisch-kulturellen Stoffen wie “West Side Story” schwören. Selbstverständlich gibt es auch die Fraktion, die nur ganz für sich stehende Filme wie “Singing In The Rain” als ‘echte’ Musicals akzeptiert.
So vielfältig die Genres, so vielfältig auch die Musikstile. Allen Varianten gemein sind ihre offensiv ausgestellte Künstlichkeit und ihre Ohrwürmer. Wir haben uns für euch Klassiker und unbekannte Perlen des Genres angesehen.
Mary Poppins (USA, 1964)
In der Kategorie Musical hätte man vermutlich jeden Disney-Film in dieser Reihe aufnehmen können. Mary Poppins ist allerdings in vielerlei Hinsicht besonders: Die Verbindung zwischen Realfilm und Zeichentrick beeindruckt optisch, vor allem für die Entstehungszeit. Die Musik mit Liedern wie „Chim Chim Cheree“ und „Superkalifragilistischexpialigetisch“ wurde essenzieller Bestandteil der westlichen Popkultur und sorgt für durchgängige Ohrwürmer. Die Schauspielleistung und Inszenierung ist absolut überzeichnet und gewinnt durch den Disney-Kontext ein ganz eigenes Cartoon-Feeling. Ebenso zeichnet sich der Film durch eine starke politische Ebene aus: Ein Lied ist den Suffragetten gewidmet, die Ohnmacht von Frauen im Kampf gegen das Patriarchat zieht sich durch den ganzen Film, Arbeiterberufe werden gegenüber der Hochfinanz deutlich positiver dargestellt und toxische Männlichkeit quasi permanent veralbert. Zurecht ein absoluter Klassiker der Filmgeschichte.
Repo – The Genetic Opera (USA, 2008)
Es liegt nahe, die Künstlichkeit von Musicals mit dem Übertriebenen des Horrorfilms zu kombinieren. Darren Lynn Bousman zeichnet in “Repo! – The Genetic Opera” eine dystopische Zukunft, in der eine Seuche zu Organversagen führt. Bleibt die Zahlung der Raten für künstliche Organe aus, reißt ein “Repo-Man” die geliehene Ware bei lebendigem Leib aus dem Körper. Vor dieser Grundlage wird eine Geschichte zwischen Vater und Tochter, Rache, großen Gefühlen und den absurden Ausmaßen des Kapitalismus in weichgezeichneten Bildern erzählt. Musikalisch dominieren stampfende Industrial-Rock-Beats, Gothic-Metal und kitschige Pop-Elemente. Dass unter anderem Paris Hiltons Charakter im wahrsten Sinne sein Gesicht verliert und Sarah Brightman eine blinde Opernsängerin spielt, sind nur weitere Puzzleteile in diesem irren, faszinierenden Spiel.
La La Land (USA, 2016)
Nicht besonders unbekannt, aber besonders sehenswert ist Damien Chazelles Wiederbelebung des Genres Musical aus dem Jahr 2016. Seine humorvolle Auseinandersetzung mit demselben zählt zu den Erfolgreichsten der Filmgeschichte und räumte eine rekordverdächtige Zahl an Preisen ab, darunter 6 Oscars. La La Land erzählt die Geschichte des erfolglosen Pianisten Sebastian (Ryan Gosling) und der von einer Schauspiel-Karriere träumenden Mia (Emma Stone). Die beiden verlieben sich unsterblich ineinander, doch ihre junge Liebe wird von ihrem turbulenten Berufsleben stark erschüttert. Wem der – auf den ersten Blick – klassisch-romantische, klischeehafte Erzählstrang nicht besonders gehaltvoll erscheinen mag, der täuscht sich. Chazelles Kassenschlager ist ein stimmiges Gesamtkunstwerk auf allen Ebenen: Drehbuch, Kamera, Choreografie, Musik, Schnitt und Darsteller*innen überzeugen nicht nur Musical-Liebhaber*innen.
Tokyo Tribe (Japan, 2014)
anga und Anime erfreuen sich im deutschsprachigen Raum großer Beliebtheit. Das gilt auch für japanische Rock- und Popmusik. Sion Sono, einer der spannendsten und vielseitigsten Regisseure aus Japan, wagt sich mit “Tokyo Tribe” nach hiesigen Verhältnissen aus diesem Rahmen. Das Ergebnis ist eine Mangaverfilmung, die musikalisch ausschließlich auf Rap und R’n’B setzt. Die musikalische Qualität ist sicherlich mindestens streitbar, “Tokyo Tribe” allerdings ein Ereignis. Darin wird ein Bandenkrieg in einer alternativen, tristen Zukunft Tokyos dargestellt. Das Ganze ist in jeder Sekunde überzeichnet, kunterbunt, obszön sexualisiert, gewalttätig und trashig. Angereichert wird dieses vogelwilde und absurde Werk mit spektakulären Martial-Arts-Einlagen und hemmungslosem Overacting.