Von Tom Trülülü
Kondensstreifen krabbeln über den pastellenen, wolkenfreien Himmel. Ulrich träumt mal dem einen und dem anderen vorbeiziehenden Flugzeug hinterher, den Passagieren, siebzig, hundert pro Flieger, er sinnt über Geschäftsreisende und Urlauber, Konferenztisch und Hotelpool, zwei gegensätzliche Düfte, die von den Maschinen der Erde entgegen seinen Nasengang hinaufziehen.
Die Terrasse verlassend im Appartement unter der gebogenen Decke ein Schritt auf den Küchentisch mit dem ungeöffneten Brief von heute Vormittag zu. Den sandfarbenen Umschlag aufgeschlitzt eröffnet sich eine Einladung zu einem feinen Dinner. Treffen der Assoziation weltumrundender Poetinnen und Filmemacher: “Ihre Anwesenheit verschafft unserem Beisammensein mehrfache Sinnlichkeit und Erquickung. Ulrich, Sie sind herzlich eingeladen!” Krakelig unleserlich unterschrieben.
Der Spiegel versichert Ulrich die Zutrefflichkeit seiner Outfitwahl, wie der Jackettstoff in der Farbe des Briefs die sanfte Taille umarmt. Im Spiegelstahl sein Antlitz sinkt der Aufzug vierzehn Stockwerke zu Straße und Straßenbahn hinab. Während der kurzweiligen Fahrt tummeln sich in den Waggons Angestellte und Arbeiterinnen ausgegossen auf Holzbänken oder baumelnd an Handläufen Richtung Feierabend, Familie und frostigfeuchten Wangenküssen. Dann steht Ulrich vor dem eingeschossigen Bungalow mit dem spitzwinkligen Dach, wohin die Einladung ihn gewünscht hatte.
Warme Lichtlampen strahlen durch die breite Fensterfront auf die dämmrige Straße und fröhliche Töne insulanischer Tanzmusik folgen ihnen nach. Eingetreten wird Ulrich mit viel Druck die Hand geschüttelt und auf einen der neonfarbenen Drinks eingeladen, die die Gäste durch kurvenreich gebogene Plastikstrohhalme sippen. Spitze bunte Partyhüte nehmen auf den Häuptern Platz, die sich in alle Zimmer des Hauses scherzend und lachend ausgestreut hatten.
Der Ulrich zuerst begrüßt hatte, trägt einen kratzhaarigen Schnurbart, seine dicke Hornbrille gebietet den hängenden Brauen Einhalt und die verbliebenen grauen Haare zwirbeln auf dem roten Schädel um das pinke, sterngemusterte Hütchen im Kreis. Ulrich ist mit dem Professor schon von einem Fotografiekongress bekannt.
Die Dämmerung ist Nacht und die Schallplatten sind schon einige Male gewechselt, da schreitet die versammelte Gesellschaft, ohne ein bestimmtes Zeichen erhalten zu haben zur großen Glasfront im hinteren Teil, die den Blick auf einen vollmonderhellten Teich freimacht. Ohne Begrüßung, Vorstellung oder Einleitung beginnt der Professor zu sprechen.
“Liebe Mitglieder, liebe Ehrenmitglieder, liebe Vertraute unserer Assoziation! Wir haben uns heute versammelt einer Ankündigung wegen, die weit über unseren Zirkel hinaus gehört wird. Es jährt sich der dreihundertfünzigste Todestag unserer Nationaldichterin Augusta Simone. Ihre maßvoll gebildeten Verse lassen Schulkinderherzen höher schlagen, Statuen ihres Antlitzes zieren die Prunkstraßen unserer Städte, die schönsten Verben und Verbalien unserer Sprache entstammen ihrem Œuvre, welches in seinem jahrhundertelangen Bestehen zur Bildung eigener literaturwissenschaftlicher Disziplinen und Schulen angestoßen hat. Ihr Geist schwingt in aller zukünftiger Poesie für immer mit.
Ihre wohl berühmtesten Zeilen besingen die magische Schaffenskraft musischen Handwerks: Die Ballade von der Morgeninsel. Uns sind sicherlich bekannt die mannigfachen Adaptionen und Verarbeitungen in andere Kunstformen, welche die Morgeninsel bis zum heutigen Tage erfahren hat. Wenn wir aber nachdenken, werden wir feststellen, dass bisher noch nie eine filmische Ausgestaltung der Morgeninsel vorgenommen wurde. Kein Blockbuster, keine Fernsehserie, nicht einmal ein Kurzfilm, der sich vortraut zu den so tief zur ewigen Wahrheit vorstoßenden Silben Simones. Nun, unsere Assoziation hat den Auftrag von höchster staatlicher Stelle bekommen, ein ebensolches Projekt zu verwirklichen.”
Das Blau von weißen Schneisen der Flugzeuge durchs Himmelsgebälk übersät. Ulrich daran desinteressiert, ausschließlich mit Filmerei beschäftigt, seit Wochen kein Schritt vor die Tür, Bestellungen alle frei Haus, arbeitsstrenge Tage, traumlose Nächte, Verdickungen unter den Augenlidern. Wie transponiert man Lyrik auf Film?
Silbernes Vollmondlicht paust den Möbeln schwarze Flecken an die Schlafzimmerwände ab und die künstlichen Wolken des Tages lange aufgelöst. Ulrich wälzt sich auf Daunen. Die Wasserflasche ist beinahe zum dritten Mal leergetrunken, Atemübungen helfen auch nicht.
Drei kurze Klingelpfiffe schnellen durch die ruhigen Räume.
Zögernd zur Tür tapsend öffnet Ulrich nicht zeitig genug. Ein Fausthieb kommt zuvor und kracht von außen durch das ächzende splitternde Holz. Eine Hand streckt sich hindurch, der Türknauf wird von innen aufgedreht und jemand tritt ein.
Gekleidet war die Frau mit einem weißen Rüschenhemd, einer orangen, weit ausholenden Leinenhose, ledernen Cowboystiefeln und einem Dreispitz über den Lockenbüscheln.
“Hör auf mit dem Unsinn, hör auf mit der Filmerei.”
“Wer bist du… sind Sie?”
“Ich bin Augusta und die Filmchenschnipsel, die du produzierst sind unansehbar, du beschmutzt alles nur.”
“Was soll das mit der Tür, sind Sie verrückt?!”
“Schlechte Künstler wie du, bleibt zuhause. Eure Einfälle sind keine Einfälle und eure Werke Schmierereien…”
“Sofort aus meiner Wohnung!”
“… und wie du meine Verse durch die Aufnahmen verhunzt, das ist ein Angriff auf den Geschmack.”
“Sie kennen mich nicht, wer sind Sie überhaupt!”
“Du sprichst mit Augusta Simone. Bin schon weg, aber lass das mit der Verfilmung der Morgeninsel. Das ist eine Warnung, diese sogenannte Bearbeitung ist eine Verschandelung.”
Wage Vorstellungen werden zusammenhängende Gesamtheit. Das Werk erlangt mit Auskristallisierung der Konzeption und letzten Schliffen vorläufige Vollendung. Wahnvorstellung kann man bekommen, wenn man sich als großer Künstler unter großer Konzentration mit einem großen Kunstwerk überarbeitet, auch wenn die Imaginationen historisch akurat gekleidete sind. Aufgespreizte Notizbücher verteilt über das ganze Appartement geben auf ihren angefüllten Seiten Auskunft über den Gang vom Gedachten zum Gemachten, den der Kurzfilm, nun fix und fertig ausgestreckt auf dem Magnetband der Kassette, hinter sich hat. Sieben Minuten und fünfunddreißig Sekunden.
Ulrich wieder endlos schick zwischen den Gestalten des Feierabends, die diesen nur in seltenen Fällen feiern. Den Datenträger in der Innentasche des sandfarbenen Anzugs sehnt Ulrich seit langem wieder durch die Straßenbahnscheiben mit ihren Schlieren und Abdrücken den Kondensstreifen nach. Bemützte Zeitungsjungen rufen draußen das Extrablatt aus.
Sie liegen bäuchlings auf dem Diwan, die Kinne zum Bildschirm gebogen. Der Professor gibt Anweisung, dass die elektrischen Gardinen das hineinbrechende Sternenfunkeln beiseite wischen und unter Verdauungsgeräuschen strahlt das gefütterte Fernsehgerät bewegte Bilder zur Pupille und an die Wand.
Die Bilder reihen sich immer ungestümer aneinander und des Professors starrer werdender Blick auf das Farbenleuchten lässt anscheinend kein Gefühl mehr übrig für seine Mundflüßigkeit. Die rinnt ihm über den Rand der Unterlippe das Kinn hinab und tropft im Takt Speichelflecken auf den Stoffbezug. Die schwere Brillenfassung rutscht ab, schlägt am Parkett auf. Dann sackt sein ganzer krauser Schädel auf den Polster. Ulrich ist hochzufrieden über die Wirkung seines Filmkunstwerks.
Nichts regt sich, als zwei Klingelstöße von der Tür ins Haus schrillen. Leisen Fußes schleicht Ulrich auf den Hauseingang zu, ein Gefühl im Magen.
Den Schraubenzieher stößt Carla, Freundin Augustas an mehreren Stellen durch den Türspalt und hebelt drauf los, ein paar Fußtritte zusätzlich und das Ding war auf. Beinahe schlittert sie auf der halben Carbonara aus, die aus dem Pappkarton hervorlugt und wäre in die Pyramide schwarzer Müllsäcke gescheppert, um den sich Insektenhorden Territoralschlachten liefern. Der schmale Pfad durch Essensreste, zerknitterte Filmrollen und Plastikverpackungen ermöglicht ihr das Aufschieben der Terrassentür und jetzt muss Carla erstmal auf dem befleckten Sofa Kräfte sammeln. Langsam erhöht sich der Sauerstoffgehalt der Wohnungsluft und sie stellt fest, dass der Depp nicht zuhause ist. Seine Kamera schon, Carla kickt sie von der Tischplatte und dribbelt sie an den Zettelhäufchen, bekritzelt in kinderlicher Blockschrift, und Müllbergen vorbei den Wohungsausgang hinaus, den sie weit offenlässt. Sollen alle wissen, wie hier gewohnt wird.
Hände inneinandergeflechtet spazieren Augusta und Carla die Straße zum Bungalow hinauf. Sie warten nach dem Anläuten nicht lange. Schwingen die Türe auf und knallen Ulrich seine Kamera auf den Schädel, dass von Schädeldecke nicht mehr gesprochen werden kann und Gehirnareale miteinander vermatscht werden, dass Ulrich nie wieder durch die Nase hören und die Ohren sehen kann. Bei der Besichtigung des Hauses erkennt Carla ihr Gesicht in einem hunderte Jahre alten Ölgemälde wieder, das schief auf der Wand neben dem Kamin hängt, der Titel liest: Piume di colomba, ma cosa può l’immaginazione nella mente della poetessa? Sie legen dem alten Mann auf dem Sofa eine spitz tickende Handtasche zur Seite, schließen sachte die Türe hinter sich und flanieren davon.
Beim Lesen der Morgeninsel wird als musikalische Untermalung In einem kleinen Nachtlokal von Greta Keller oder I Dreamed I Dream von Sonic Youth empfohlen.