Interview geführt von Karolin Mayer
Bitte stellen Sie sich einmal vor: Wer sind Sie und an welchen Themenbereichen forschen Sie hier an der PLUS?
Ich bin Leonhard Menges und ich bin Assoziierter Professor für Praktische Philosophie. Das heißt, ich unterrichte hier an der Universität Ethik, Politische Philosophie und Sozialphilosophie. In der Forschung beschäftige ich mich mit zwei größeren Themenbereichen und versuche momentan noch einen dritten aufzumachen: Meine Doktorarbeit habe ich über moralische Vorwürfe geschrieben. Also, was heißt das eigentlich, jemandem einen Vorwurf zu machen? Wann ist es gerecht, gut oder angemessen, jemandem einen Vorwurf zu machen? Oder sollten wir vielleicht lieber mit unserer Praxis des Vorwerfens aufhören? Davon ausgehend bin ich dann in den letzten Jahren zu eher klassischen Fragen der Willensfreiheit gekommen, weil viele die Vorstellung haben, dass es nur dann gerecht ist, jemandem Vorwürfe für eine Handlung zu machen, wenn die Person die Handlung aus freiem Willen ausgeführt hat. Zu diesem Komplex der moralischen Verantwortung arbeite ich jetzt seit ein paar Jahren und zwar insbesondere zu der Frage, was denn eigentlich passiert, wenn wir keinen freien Willen haben. Also in welchem Sinn sind wir dann nicht verantwortlich? In welchem Sinn sind wir dann vielleicht trotzdem verantwortlich?
In meinem zweiten Forschungsbereich beschäftige ich mich mit dem Recht auf Privatsphäre. Und in einem dritten Bereich, mit dem ich hoffentlich bald oder irgendwann einmal loslegen kann, will ich die Frage diskutieren, mit welchen Emotionen wir auf den Klimawandel und die mangelhaften politischen Lösungsversuche reagieren sollten.
Wie lässt sich denn das Thema künstliche Intelligenz in Ihren genannten Komplex der moralischen Vorwürfe einordnen?
Nehmen wir mal an, eine künstliche Intelligenz trifft auf irgendeine Art und Weise eine eigene Entscheidung. Zum Beispiel ein selbstfahrendes Auto entscheidet sich, an irgendeiner Stelle links abzubiegen, aber da steht jemand und die Person wird überfahren. Nun ist die Frage, wer denn jetzt eigentlich verantwortlich dafür ist. Sind es die Fahrenden, die Herstellerinnen und Hersteller, die Designerin oder der Designer? Ist es das Auto selbst? Für alle diese Punkte gibt es irgendwie Einwände: Man kann sagen, dass die Fahrenden im Vorhinein nicht wissen konnten, dass der Wagen so fahren würde. Wir können uns die Designer vorstellen, die alles richtig programmiert haben und irgendwie scheint es auch schräg zu sein, dem Auto selbst Vorwürfe zu machen. Aber diese Autos sind wahrscheinlich ab einem gewissen Punkt so autonom, dass es trotzdem zu Fehlern kommen kann. Da sind meine Kollegin Hannah Altehenger und ich dann losgegangen und haben geschaut, was eigentlich Vorwurfstheorien dazu sagen könnten. Schlussendlich sind wir zu dem Ergebnis gekommen: Doch, also den besten Theorien zufolge könnte es Sinn ergeben, dem Auto Vorwürfe zu machen und haben dies dann auch publiziert.1
Was ist denn überhaupt der Kern eines moralischen Vorwurfs?
Also ein Vorwurf ist keine Handlung und auch keine Aussage, sondern eine Einstellung, also etwas Mentales. Das können wir daran erkennen, dass wir einander oder uns selbst stille Vorwürfe machen können, ohne dabei irgendwie zu handeln. Wir können uns selbst stille Vorwürfe machen, indem wir uns zum Beispiel schuldig fühlen. Die große Debatte in der Philosophie dreht sich dann darum, in welchen mentalen Einstellungen der eigentliche Vorwurf dann besteht. Sind es bestimmte Emotionen oder Wünsche? Sind es bestimmte Überzeugungen oder irgendetwas ganz anderes?
Sie haben Ihren Magister (Master) in Freiburg absolviert und Ihren Doktor in Berlin- nun lehren Sie in Salzburg. Ein ganz schönes Kontrastprogramm, oder?
Ja, das stimmt! Also in Freiburg bin ich vollkommen zufällig gelandet. Nach dem Abitur habe ich ein Freiwilliges Soziales Jahr in Marseille gemacht und das war so anstrengend, weil es so laut und dreckig und heiß war, dass ich danach eine ruhige Unistadt brauchte und das ist halt Freiburg geworden. Mir ist es irgendwann ganz schön auf die Nerven gegangen, weil es sehr Disneyland-mäßig war. Da war Berlin danach die richtige Abwechslung.
Zudem sind die Chancen, an der Uni eine Festanstellung zu bekommen, in der Philosophie einfach sehr, sehr gering. Ich hatte nach der Promotion eine Stelle an der Uni Lübeck, die wahrscheinlich entfristet worden wäre, aber die Philosophie in Salzburg ist einfach viel besser, und ich hatte hier die Möglichkeit, Professor zu werden. Also ich bin total zufrieden hier: Ist eine wunderschöne Stadt, tolle Universität, super Gegend, also sehr großes Glück gehabt!
Haben Sie durch Ihr Sprach- und Literaturwissenschaftsstudium einen Bezug zu Lyrik?
Ne, also irgendwann, als ich mich für den Schwerpunkt Philosophie entschieden habe, habe ich aufgehört, mich wirklich wissenschaftlich mit Literatur auseinanderzusetzen. Ich höre immer noch gerne Rapmusik – ist ja auch nicht allzu weit entfernt. Aber ich setze mich jetzt nicht abends hin und analysiere Gottfried Benn oder so. Das ist jetzt für mich wenn, dann nur noch Hobby.
Also, haben Sie demnach eine Lieblingsband, Lieblingsmusikrichtung, ein Lieblingslied?
Jan Delay hat gerade sein Best of Album rausgebracht. Von seinem Album davor hat mir das Intro sehr gut gefallen. Ebenso die letzten beiden Alben von Grim104. Ich bin halt Ende der 90er aufgewachsen und da kam deutscher Rap auf. Zwischendurch auch immer mal andere Sachen, wie Rock und ein bisschen Elektro, aber meistens immer noch Rap. Demnach habe ich es nie geschafft, mich komplett davon zu distanzieren und bin ein bisschen indoktriniert vielleicht; hatte dann irgendwann aber auch keine Zeit, mich auf etwas komplett Neues einzulassen.
Was ist Ihre liebste Erinnerung an die Studienzeit?
Was mir am Studium akademisch betrachtet am meisten Spaß gemacht hat, sind Lesekreise. In der Germanistik hatten wir einen tollen Kreis von Leuten, die sich auf die unfassbar umfangreiche Abschlussprüfung vorbereitet haben. Wir waren eine tolle Gruppe von vier Leuten, und haben uns jeden Nachmittag im Sommer im Café getroffen und sind stundenlang die Texte durchgegangen und haben sie diskutiert. Auch in der Philosophie gab es einen Lesekreis, in dem wir auf eigene Faust Klassiker der analytischen Philosophie durchgearbeitet haben. Das war im Studium die beste Zeit.
Was dachten Sie damals während Ihrer Schul- oder Studienzeit, was Sie mal beruflich ausüben werden? Also war das Professor-Sein schon angelegt in Ihren Wünschen, oder kam das erst?
Also, ich meine, ich hatte immer Spaß an theoretischen Fragen, aber nach meinem Zivildienst in Frankreich wollte ich eigentlich eher was Praktisches machen. Dort habe ich in der Flüchtlingshilfe gearbeitet und wollte eigentlich was unmittelbar Helfendes machen, sodass ich dann ein Psychologiestudium begann. Ich konnte mir vorstellen, Therapeut zu werden und habe dann nur nebenher Philosophieveranstaltungen besucht, um Einblicke zu erhalten. Innerhalb der ersten Monate habe ich aber schon gemerkt, dass es einfach toll wäre, mich mein Leben lang damit zu beschäftigen. Und da braucht man dann einfach unheimlich viel Glück, dass das funktioniert.
Hatten Sie demnach auch Zweifel mit Ihrem Wunsch, dem Philosophieren beruflich nachzugehen?
Natürlich habe ich mir die Frage gestellt, was passiert, wenn das mit der Philosophie nicht funktioniert. Ursprünglich wollte ich eigentlich Journalist werden und habe auch immer für Zeitungen parallel zu Schule und Studium gearbeitet. Meiner Wahrnehmung nach kann man sich aber als Journalist nicht so intensiv mit philosophischen Fragen beschäftigen, weil es einfach viel schneller gehen muss. Man hat ein paar Tage oder ein paar Wochen Zeit, um Artikel zu schreiben. An meiner Doktorarbeit habe ich vier Jahre gearbeitet. Diese Genauigkeit, die geht im Journalismus fast nie und die war mir schon sehr wichtig. So kam es dann, dass ich als Backup ein Lehramtstudium gemacht habe; wenn es an der Uni nicht geklappt hätte, wäre es mir möglich gewesen, an die Schule zu gehen.
Auf welche Frage finden Sie für sich selbst keine Antwort? Wie gehen Sie damit um?
Ha! Fast alle philosophischen Fragen! Also im Grunde alle, die wir in den Einführungsvorlesungen diskutieren; zu denen habe ich keine eigene Antwort. Zum Beispiel die Metaethik: Gibt es eigentlich objektive Wahrheiten in der Moral? Ich habe keine Ahnung, aber ich finde es hoch faszinierend und irgendwie wichtig. Aber ich weiß wirklich nicht, was ich glauben soll und enthalte mich dann am Ende, auch wenn ich manche Antworten plausibler finde als die anderen.
Gibt es Personen, die Sie positiv inspiriert haben?
Ich hatte einen hervorragenden Lehrer am Gymnasium, der Deutsch und Geschichte unterrichtet und die Theater AG geleitet hat. Er hat uns Schülerinnen und Schülern eine unglaubliche Freiheit gelassen. Also im Theater geht das ja sowieso: man probiert einfach mal aus, schreibt Texte, tanzt rum. Das war großartig. Aber interessanterweise hat er eben auch im Unterricht Freiraum ermöglicht. Er ist irgendwann zu mir gekommen und hat gesagt: Du weißt jetzt, wie man Aufsätze schreibt, aber mach es so, wie du es für richtig hältst. Er hat uns abgefahrene Sachen machen lassen und hat das am Ende auch honoriert. Das ist eine Unterstützung gewesen, die mir Selbstvertrauen und die Möglichkeit gegeben hat, Dinge auszuprobieren, die sonst in dem starren Rahmen gar nicht möglich gewesen wären. Das weiß ich noch immer sehr zu schätzen.
Welche Werte sind eine Leitfunktion in Ihrem Leben? Welche sind als Professor wichtig?
Was man am meisten mitbringen muss, sind zwei Dinge wahrscheinlich: Eigenmotivation und Frustrationstoleranz. Es dauert einfach so lange, auf ein gewisses Level zu kommen, in dem man was beitragen kann, was dann auch von der Community honoriert wird und womit man einen Job bekommt. Wenn man jahrelang gesagt bekommt, dass es zu schlecht ist, was man tut; da braucht man wirklich ein dickes Fell, das durchzustehen.
Was mir sonst persönlich wichtig ist, ist Strukturiertheit. Also diese vielen komplexen Aufgaben, die mir in der Philosophie begegnen, so strukturieren zu können, dass ich sie sinnvoll angehen und idealerweise auch lösen kann. Zudem auch Klarheit. Ich möchte, dass ich selbst immer weiß, woran ich bin, wie es weitergeht, welche Probleme anstehen, wie ich sie lösen kann. Idealerweise aber auch, dass alle anderen um mich herum wissen, woran sie sind; dass wir auf einer ganz klaren Ebene sind und keine unausgesprochenen Unklarheiten irgendwo herumschwirren, sondern jeder weiß, was jetzt wer von wem erwartet.
Wenn Sie ein Tier wären, welches wären sie und welche Attribute hätten Sie gerne?
Pinguine. Ey, ich finde es einfach toll, dass sie auf dem Land so unbeholfen daherkommen und dann im Wasser so wahnsinnig elegant sind. Außerdem hab ich sehr spät… also ich bin nie untergegangen; ich konnte schwimmen, aber ich habe erst mit 30 Jahren kraulen gelernt. Das heißt, ich werde nie ordentlich schwimmen können. Und ja, deswegen ist der Pinguin da mein größter Freund.
Welche herausfordernde Eigenschaft begleitet Sie schon länger?
Ich möchte gerade lernen, häufiger nicht „ja“ und häufiger „nein“ zu sagen. Also auf Anfragen, wie: können Sie bei dieser oder jener Kommission mitarbeiten, können Sie mal einen Vortrag halten… das muss ich deutlich besser lernen, sonst kann ich irgendwann mit meinem Job aufhören.
Was ist Ihre Humorfarbe?
Ha! Ganz viele Arten, also sowohl trash und so Otto Waalkes Sachen, aber ich mag es auch, an bösen Dingen das Witzige zu finden. Also schwarzen Humor.
Wie stark ist der Druck oder der Eigenanspruch als Professor, kontinuierlich etwas Intellektuelles beizutragen?
Das ist für viele Leute wahrscheinlich schräg, aber es macht mir wirklich unheimlich viel Freude, mich mit intellektuellen Themen auseinanderzusetzen: mich einzuarbeiten, meine eigenen Gedanken dazu auszubuchstabieren, auf Konferenzen zu gehen, das vorzustellen und dort mit Leuten zu diskutieren. Der Druck entsteht dann eher daraus, das Ganze dann vermarkten zu müssen. Also daraus Anträge zu erstellen, Bücher und Aufsätze zu schreiben; dieser Veröffentlichungsprozess kann sehr frustrierend sein. Gute Zeitschriften zum Beispiel haben Annahmequoten von zwischen 1,5 und 8 %. Das heißt, mein Aufsatz, an dem ich um die zwei Jahre gearbeitet habe, geht an anonyme Gutachter und ich muss dann sechs Monate warten. Wenn alles gut gegangen ist, erhalte ich dann zwei anonyme Gutachten und sobald eins negativ ist, wird meine Arbeit abgelehnt. Daraufhin überarbeite ich das Ganze nochmal und reiche es nochmal ein. Und das führt dann dazu, dass so ein Aufsatz vier Jahre unterwegs ist, bis er irgendwo angenommen wird. Je nachdem, in welche Zeitschriften man es schlussendlich schafft, kriegt man unterschiedlich viel Anerkennung und diese kommt mit allen schönen Dingen einher, wie Einladungen zu tollen Universitäten, super Forschungsstipendien und man kann dann durch Drittmittel tolle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einstellen. Das ist ein riesiger Druck, vor allem zu der Zeit, als ich diese feste Stelle hier noch nicht hatte. Man kann einfach sehr großes Pech mit diesen Gutachterinnen und Gutachtern haben. Die finden dann ein, zwei Punkte irgendwie nicht überzeugend und dann geht der ganze Spaß wieder von vorne los.
Angelehnt an Kant: Was kann ein Studierender wissen? Was soll ein Studierender tun? Was darf ein Studierender hoffen? Und was ist ein Studierender?
Ich beziehe das Ganze mal auf Philosophie-Studierende. Sie dürfen hoffen, von uns folgende Kompetenzen zu bekommen: erstens, sehr komplexe Begriffe auseinanderzunehmen und zu verstehen. Zweitens, sehr komplexe Argumente auseinanderzunehmen, zu verstehen und idealerweise selbst zu formulieren. Und drittens, das alles schriftlich und mündlich zu präsentieren. Diese allgemeinen Kompetenzen können Sie auf alle möglichen Berufsfelder vorbereiten. Mein Ziel ist es, dass Sie am Ende von keinem argumentativ übers Ohr gehauen werden können und das ist, glaube ich, sehr viel wert.
Was können sie wissen? Ich möchte, dass die Studierenden bei uns am Ende rauskommen und die gerade genannten Kompetenzen, anhand einiger beispielhafter, wichtiger und spannender Themen, Fragen, Autorinnen und Autoren durchexerzieren können.
Was sollen sie tun? Sie sollten zur Vorlesung auch wirklich gehen und sich nicht nur die Folien am Ende anschauen (Zwinkersmiley).
Was ist ein Studierender? Studierende sind in einer oft hoch konfliktreichen Lebensphase, weil alles im Fluss ist; der Übergang vom Kind zum Erwachsenen. Plötzlich muss man sich vielleicht komplett selbst finanzieren, es herrscht in vielerlei Hinsicht eine super prekäre Lebenssituation. Gleichzeitig haben sie wahnsinnige Freiheit, Dinge und Lebenswege auszuprobieren. Und zwischen riesigen Herausforderungen, Prekarität und riesiger Freiheit ist ein einmaliges Spannungsfeld im Leben der Menschen und damit wahnsinnig aufregend, aber auch wahnsinnig herausfordernd. Da können wir als Universität nur einen guten Rahmen dafür schaffen, dass das möglichst konfliktfrei funktioniert. Aber selbst das ist vielleicht ein zu hoher Anspruch.
Es war ein sehr aufschlussreiches Gespräch. Vielen lieben Dank für Ihre Zeit und die vielen interessanten Einblicke!