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Armenische Kirche am Ufer des Sevansees

Der Binnenstaat im Kaukasus steht heute vor einer neuen Souveränitäts- und Existenzkrise.  Während ArmenierInnen vor rund 100 Jahren eines der grausamsten Völkermorde der modernen Geschichte erleben musste, geht es heute um den Bergkarabach/Arzach-Konflikt. Einen Generationenkonflikt, der sich mittlerweile über viele Jahrzehnte hinzieht – mit allem was dazugehört: Hetze, Vertreibung und Propaganda. Seit dem erneuten Entfachen des Konflikts 2020 treten alte Existenzängste und Reflexe wieder in den Vordergrund. 

Von Konstantin Ghazaryan

Das kleine Land am Fuße des Kaukasusgebirges lässt sich nicht so leicht auf der Karte finden: Armenien wurde als Kreuzpunkt unterschiedlicher Zivilisationen zwischen dem Orient und Okzident in der Geschichte bereits mehrmals umkämpft. Heute steht das Land vor einem erneuten Existenzverlust – zu tief sitzen die Ängste und Erinnerungen. Denn vor 106 Jahren kam auf dem Gebiet des ehemaligen Osmanischen Reichs zum systematischen Mord an den ArmenierInnen, GriechInnen, AssyrerInnen, AramäerInnen sowie YezidInnen. Am 24. April 1915 wurde der Völkermord an den ArmenierInnen staatlich eingeleitet, als im ehemaligen Konstantinopel 200 VertreterInnen der armenische Elite verhaftet und hingerichtet wurde. Unter ihnen der armenische Schriftsteller Daniel Waruschan, der wenige Monate später während  der Deportation ermordet wurde. Ihm sollte etwa 1.500.000 Millionen ArmenierInnen folgen. Eines der größten Tragödien des 20. Jahrhunderts, und wahrscheinlich der Menschheit, wird allerdings bis zum heutigen Tag von der modernen Türkei nicht anerkannt. Und das obwohl die Weltgemeinschaft und die HistorikerInnen sich weitgehend einig sind: In der Türkei stehen Leugnungskampagnen, Verschwörungstheorien und Repressionen an türkische HistorikerInnen, die das Thema ansprechen, auf der Tagesordnung. Der darauffolgende Bruch des Vertrags von Sevres (das osmanische Pendant des Versailler Abkommens), in Zuge dessen mehrheitlich von den ArmenierInnen bewohnte Gebiete Ostanatoliens Teil der jungen armenischen Republik werden sollten, stellte das ohnehin erschöpfte Land vor dem Souveränitätsverlust. Durch den sogenannten „Bruderschaftsvertrag“ zwischen der neugegründeten kemalistischen Türkei und der neu entstandenen Sowjetunion wurde seitens der Sowjetunion der Anspruch auf diese Gebiete endgültig aufgegeben. 

Heute steht das Land vor einer neuen Souveränitätskrise. Grund dafür ist der sogenannte Bergkarabach bzw. Arzach-Krieg, über den, wenn überhaupt, nur in einer Randnotiz berichtet wurde. Dabei handelt es sich um einen Generationenkonflikt zwischen Aserbaidschan und Bergkarabach, der mit dem Zerfall der Sowjetunion wieder ausgebrochen ist. Die Wurzeln des Konflikts hingegen liegen in den Anfängen des letzten Jahrhunderts. Bergkarabach oder Arzach, wie es von den Einheimischen genannt wird, ist ein Gebiet im Kaukasus, das etwa seit dem 5. Jahrhundert durchgehend von ArmenierInnen bewohnt wird. Im Laufe der Eroberungszüge von Seldschuken sowie Turkvölkern siedelten sich die Vorfahren der AserbaidschanerInnen ab dem 11. Jahrhundert im Kaukasus an. Bergkarabach selbst hatte in den letzten Jahrhunderten trotz wechselnder regionaler Machthaber eine wesentliche Konstante: Eine armenische Bevölkerungsmehrheit. Volkszählungen aus den Jahren 1926 und 1939 gehen von einem armenischen Bevölkerungsanteil von respektive  89% und 88% aus. Während der Unabhängigkeitskriege der 1920er Jahre wurde das Gebiet sowohl von Armenien als auch Aserbaidschan beansprucht. Nach der Festigung der Sowjetunion wurde Bergkarabach vom Kaukasischen Zentralkomitee der Kommunistischen Partei aufgrund der Bevölkerungsmehrheit und des historischen Kontexts nach einer Abstimmung am 4. Juli 1921 an Armenien angeschlossen. Am darauffolgenden Tag wurde diese Entscheidung vom damaligen Kommissar für Nationalitätenfragen, Josef Stalin, annulliert und ohne Miteinbezug von Gremien oder der Bevölkerung als autonome Teilrepublik an Aserbaidschan angeschlossen. Die Eingliederung dieser Region in die Aserbaidschanische Sozialistische Sowjetrepublik änderte dennoch wenig an den Bevölkerungsverhältnissen in Bergkarabach.

Als es im Zuge der Zerfallserscheinungen der Sowjetunion zu Unruhen kam, führte Bergkarabach gemäß der Sowjetverfassung, wonach autonome Teilrepubliken das Recht haben durch ein Referendum aus dem jeweiligen Sowjetstaat auszutreten, eine Volksabstimmung durch. Die Wahlbeteiligung lag bei 82%, 18% boykottierten die Wahl. Etwa 99% der Wähler stimmten dem Unabhängigkeitsreferendum zu. Die Zentralregierung in Baku erkannte das Ergebnis und daraus schlussfolgernd die Unabhängigkeit der Teilrepublik nicht an. Gegenseitige Vertreibungen und ein langjähriger Krieg zwischen 1991 und 1994, im Zuge dessen 1994 das Bischkek-Protokoll unterzeichnet wurde, waren die Folge. Durch einen militärischen Sieg und den Waffenstillstand in Bischkek etablierte sich die de-facto Republik Arzach (Bergkarabach). Seit 1994 kam es allerdings zu keinen nennenswerten Fortschritten im Verhandlungsprozess. Während die aserbaidschanische Seite mit der territorialen Integrität argumentierte, führte die armenische Seite das Selbstbestimmungsrecht der Völker an. Ein eingefrorener Konflikt, der sich durch einzelne Schusswechsel im Grenzbereich und viel politische Propaganda auszeichnete. Eine ganze Generation wuchs in der Atmosphäre des Konfliktes, des Hasses und nationalistischer Tendenzen auf. Während in Armenien und auch in Bergkarabach im Laufe der Jahre sich eine laut Freedom House Index „teilweise freie“, sich zu konsolidierende Demokratie entwickelte, rangiert Aserbaidschan mit 10 von 100 Punkten nur knapp hinter Staaten wie Nordkorea. Die Autokratie am Schwarzen Meer wird seit über 25 Jahren von der Aliyev-Familie geführt. Als 2002 Heydar Aliyev (ehem. Präsident Aserbaidschans) starb, übernahm sein Sohn, Ilham Aliyev das Amt, das er bis heute autoritär führt. Die Frau des Präsidenten bekleidet zugleich des Amt der Vizepräsidentin des Landes, die Tochter führt milliardenschwere Fonds. Während sich Aserbaidschan demografisch, wirtschaftlich aufgrund der Erdöl- und Erdgasquellen erholen konnte und sich mit modernster Militärtechnik ausrüstete, kam es in Armenien zu einer schwächeren wirtschaftlichen Entwicklung und gar einem Rückgang der Bevölkerung – nicht zuletzt aufgrund von Emigration.

Nach einem Machtwechsel in Armenien 2018 erhoffte sich die Bevölkerung Antikorruptionsmaßnahmen und die Stärkung des Landes. Die anfängliche Euphorie der Bevölkerung mündete 2020 und 2021 in einer Enttäuschung. Denn 2020 kam es zu den größten Kampfhandlungen zwischen Aserbaidschan und Bergkarabach seit 1994. Der sogenannte „Zweite Bergkarabach-Krieg“ dauerte zwischen 27. September und 9./10. November an und endete mit dramatischen Folgen für die armenische Bevölkerung. Hohe menschliche Verluste auf beiden Seiten, der Verlust von 70% des Gebietes von Bergkarabach und etwa 100.000 Binnenflüchtlinge. Durch moderne Militärdrohnen konnte Aserbaidschan den Krieg für sich gewinnen. Militärdrohnen gegen veraltetes sowjetisches Militärgerät. Aus Frankreich, Russland und den USA wurde die Teilnahme syrisch-türkischer Dschihadisten auf der Seite Aserbaidschans bestätigt. Die erneuten Verluste riefen tiefe Erinnerungen und Ängste innerhalb der armenischen Bevölkerung auf. Vor allem die Unterstützung Aserbaidschans durch die Türkei und die Zurufe Erdogans die „Sache der Großväter zu vollenden“, lassen alte Reflexe aufleben. Die Beteuerungen der aserbaidschanischen Eliten, ArmenierInnen könnten friedlich in Bergkarabach leben, stehen im starken Gegensatz zu den Handlungen. Die Zerstörung armenischer Kirchen, die Gefangennahme von hunderten Soldaten und Zivilisten führte zu einer Erschöpfung einer ohnehin kriegsmüden Gesellschaft. Die alarmierenden Worte keines minderen als des ehemaligen Bürgermeisters von Baku Hacıbala Abutalıbov (2001-2018) bei einem Treffen mit einer bayrischen Delegation 2005 sprechen eine eigene Sprache: „Unser Ziel ist die vollständige Auslöschung der Armenier. Sie, Nazis, haben bereits die Juden in den 1930er und 40er Jahren eliminiert, richtig? Sie sollten in der Lage sein, uns zu verstehen.“ Neue nationalistische Aufrufe des aserbaidschanischen Machthabers Ilham Aliyev führen diese Rhetorik fort und die völkerrechtswidrige Grenzverletzung aserbaidschanischer Soldaten im Mai 2021 tragen nicht zur Entspannung der armenischen Gesellschaft bei. Heute braucht die armenische Gesellschaft die Solidarität der Weltgemeinschaft. Eine ohnehin schon gespaltenen Gesellschaft, die mit dem Rücken zur Wand steht.

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