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In unserer Leistungs- und Wettbewerbsgesellschaft ist oft von „Narzissmus“ die Rede. Damit ist eine Haltung der bedingungslosen Performanz ohne echten Austausch gemeint. Manche finden, dass sie sogar erforderlich ist, um Teil der so genannten Eliten zu werden. Aber sollten wir unser Augenmerk nicht eher auf die Ohnmacht hinter diesen Allmachtsphantasien richten?

Von Susanne Plietzsch

Dass unsere Universität seit den letzten Jahren offiziell PLUS – also „mehr“ – genannt wird,1 lässt mich an das 1849 von Theodor Storm (1817-1888) verfasste Märchen „Der kleine Häwelmann“ denken und an dessen zentralen Satz: „Mehr, mehr! Leuchte, alter Mond, leuchte!“ Das Thema des Märchens ist die – angebliche – emotionale „Unersättlichkeit“ eines kleinen Kindes. In seiner Interpretation wird manchmal von Narzissmus gesprochen; gemeint ist ein Entwicklungsschritt des kindlichen Protagonisten vom „frühkindlichen Narzissmus“, einem Gefühl der Unbegrenztheit, in dem jede Frustration als tödliche Bedrohung wahrgenommen wird, zu einer realistischen und beziehungsfähigen Haltung.2 Dieser „frühkindliche Narzissmus“, ein Begriff, der meines Wissens in der Psychologie kaum noch verwendet wird, muss selbstverständlich von jenem Narzissmus unterschieden werden, von dem im Zusammenhang mit unserer heutigen Wettbewerbsgesellschaft oft die Rede ist: Leistungsstreben, das die vordergründige Performanz über den Inhalt stellt und schlimmstenfalls den Kontakt zur Realität, zu den Strukturen und Werten der Umgebung, verliert, von Empathie ganz zu schweigen. Und doch, die Analogien sind offensichtlich: „Mehr, mehr!“ An der Universität wären das: mehr Studierende, mehr Publikationen (peer reviewed, natürlich), mehr Drittmittel, mehr Projekte, mehr „Sichtbarkeit“, höheres Ranking usw. – anstelle von echten Fragen und echter Erkenntnis.

Werden diese Gegebenheiten thematisiert, läuft es meistens darauf hinaus, dass sie bedauert und beklagt werden, dass darauf hingewiesen wird, dass sie krank machen – und dass dann zur Tagesordnung übergegangen wird. Allenfalls wird noch die neoliberale Leistungsgesellschaft als Verursacherin bezeichnet.4 Doch so wichtig es ist, diesen Zusammenhang herzustellen: Den primären Ursachen kommen wir nur auf die Spur, wenn wir es wagen, hinter die Kulissen der aufgebauten moralischen „Werte“ (Gier ist schlecht!) zu schauen und das Motiv der angeblichen Unersättlichkeit als natürliche und berechtigte Bedürftigkeit des kleinen Kindes zu dechiffrieren. Wie könnte eine solche Spurensuche aussehen? Ich möchte sie als Experiment im Folgenden am „kleinen Häwelmann“ versuchen und ein paar Gedanken dazu anschließen, wie ein solches Umdenken unser Bildungsverständnis verändern könnte.

1. Textinterpretation5: „Unersättlichkeit“ als Bedürftigkeit

Der Erzählverlauf 

Das Märchen basiert auf einer typischen Eltern-Kind-Situation: Der Protagonist Häwelmann ist ein kleiner Junge, vielleicht zwei Jahre alt. Manchmal, wenn er nachts oder nachmittags schlafen soll, aber nicht will, „muss“ seine Mutter ihn in seinem Rollenbett im Zimmer herumfahren – „und davon konnte er nie genug bekommen“. Das Märchen arbeitet damit, dass dieses die Eltern störende Verhalten ins Groteske gesteigert wird. Die Mutter in ihrem „Himmelbett“ ist schon eingeschlafen, aber Häwelmann will immer noch gefahren werden!

Wo ist eigentlich der Vater? Er ist der Erzähler („Häwelmann“ ist auch im wirklichen Leben der Sohn Storms) und hält sich dadurch auf Distanz. Er begibt sich in die Rolle des weit entfernten und beobachtenden Mondes. Als das Märchen 1849 verfasst wurde, hat es wohl niemand seltsam gefunden, dass die Mutter und sonst niemand im Halbschlaf das Rollenbett hin- und herschiebt. 

Das Bedürfnis Häwelmanns, durch das Bewegtwerden Verbundenheit und Sicherheit zu erfahren, findet, nachdem die Mutter eingeschlafen ist, keine Resonanz mehr. Er hilft sich selbst, indem er ein Bein in die Höhe streckt und sein Nachthemd mit dem großen Zeh festhält, eine Situation der komischen Entblößung. Aus dem Nachthemd wird ein Segel, in das Häwelmann so stark bläst, dass er auch ohne Mitwirken der Mutter durch das Zimmer fahren kann, und sogar, die Schwerkraft verlassend, über die Wände und die Zimmerdecke. Das sieht der mittlerweile ins Zimmer blickende Mond und findet es „possierlich“. 

Bereits damit zeigt der Erzähler, der sich mit dem „guten, alten“ Mond identifiziert, dass er im Grunde kaum Empathie für Häwelmann aufbringt. Hätte er sonst angesichts dieses entgrenzten Durch-den-Raum-Fahrens nicht sehen müssen, dass hier ein Kind die Orientierung verloren hat und gehalten werden will? Zeigt der enorme Kraftaufwand Häwelmanns nicht, dass er wirklich in Not ist? Das Märchen sagt es sogar selbst: Wäre es nicht Nacht, würde die Welt nicht „auf dem Kopf stehen“, wäre Häwelmann in Todesgefahr! Das heißt: Ohne die selbst produzierte Illusion der Befriedigung, die ihn vorläufig davor schützt, seine Verlassenheitsgefühle in vollem Ausmaß zu spüren, würde er „abstürzen“ und sich „den Hals brechen“. Das alles ignoriert der Mond jedoch geflissentlich. Er amüsiert sich über Häwelmanns Irrfahrt durch den Raum des Schlafzimmers und fragt ihn scheinbar besorgt, ob er denn „noch nicht genug“ habe. Ist diese Frage nicht eigentlich eine subtile Aufforderung, das gefährliche Spiel fortzusetzen? Denn schlussendlich ist es der Mond, der es Häwelmann ermöglicht, seine Grenzen noch weiter zu überschreiten: 

Als er dreimal die Reise gemacht hatte, guckte der Mond ihm plötzlich ins Gesicht. „Junge“, sagte er, „hast du noch nicht genug?“ – „Nein“, schrie Häwelmann, „mehr, mehr! Mach mir die Tür auf! Ich will durch die Stadt fahren; alle Menschen sollen mich fahren sehen.“ – „Das kann ich nicht“, sagte der gute Mond; aber er ließ einen langen Strahl durch das Schlüsselloch fallen; und darauf fuhr der kleine Häwelmann zum Hause hinaus.

Es scheint, als ob Häwelmann zur Projektionsfläche des Mondes bzw. des Vaters geworden ist. Dieser, selbst in einer sicheren Position, beobachtet das Kind auf dessen emotionaler Achterbahnfahrt: heraus aus seinem Zimmer, heraus aus der Stadt und sogar weg von der Erde. 

Häwelmann sucht verzweifelt Aufmerksamkeit und Resonanz, findet sie aber weder in der Stadt noch im Wald. Sowohl die Menschen als auch die Tiere schlafen. Er trifft lediglich zwei Wesen, die wach sind: den Hahn auf dem Kirchturm und den Kater Hinze im Wald. Diese fungieren innerhalb des Märchens als Gegenbilder zu Häwelmann, sind sie doch bei dem, was sie tun, nicht auf spezielle Aufmerksamkeit aus. Der Hahn kräht einfach, um die Zeit zu messen, auch wenn es kurz nach Mitternacht noch niemand hört, und Hinze imitiert mitten in der Nacht mit seinen leuchtenden Augen die Sterne, ohne Publikum. Beide sind im Kontakt mit Zeit und Raum – und auch mit sich selbst, was auf Häwelmann nicht zutrifft, der sich inzwischen völlig orientierungslos durch den Himmel bewegt. Da der Vergleich zwischen ihm und den beiden Tieren auf einer pädagogisch-moralischen Wertung basiert, erfährt die Verzweiflung des Kindes einmal mehr Ignoranz und Abwertung. Doch erst, als Häwelmann dem „alten guten“ Mond „quer über die Nase“ fährt, so dass diese dunkelbraun (?) wird, wendet sich das Blatt. Nun gibt der Mond seine Beobachterposition auf und findet die Situation nicht mehr „possierlich“. „Pfui“ und „alles mit Maßen“ sagt er plötzlich und löscht sein Licht. Das Spiel ist zu Ende und die Nacht auch bald. Häwelmanns Angst steigert sich nun ins Unermessliche; er ist in der völligen Dunkelheit unsichtbar für andere geworden und rast ohne jedes Gefühl für Zeit und Raum durch den Nachthimmel. 

Wie geht es weiter? Der Himmel als Ort dieser Sequenz scheint bereits am Anfang des Märchens durch das „Himmelbett“, in dem die Mutter schläft, vorweggenommen zu sein. Häwelmann war somit die ganze Zeit auf der Suche nach ihr als der Quelle der Geborgenheit! Als die Sonne erscheint, erwartet er zunächst den Mond und das ihm vertraute illusionäre Spiel zurück, sie aber konfrontiert ihn mit ihrer Perspektive. (Ist die Sonne die Mutter? Wahrscheinlich schon.) „Was machst du hier in meinem Himmel?“ sagt sie – da ist nichts mehr übrig von dem aufopferungsvollen Mütterchen, das bis zur Erschöpfung ihr Kind durch das Zimmer rollt. Die Sonne duldet Häwelmann nicht in „ihrem Himmel“, sondern wirft ihn ohne Umschweife ins Meer seiner Gefühle; „da konnte er schwimmen lernen“ – oder ertrinken.

Der Vater (trotz seiner Widersprüchlichkeit) und das eigene Selbstbewusstsein – „du und ich“ – sind es dann, die Häwelmann nicht untergehen lassen, sondern ihn ins „Boot“ holen – freilich, ohne dass das Erlebte benannt und gewürdigt werden kann. Aber so kann es erst einmal weitergehen. 

Beschuldigung des Kindes statt wissender Empathie

Geht es in diesem Märchen „lediglich“ um eine entwicklungspsychologische Thematik, oder wird, ohne dass es dem Autor vollständig bewusst wäre, ein Trauma mitgeteilt? Wäre ersteres der Fall, würden wir miterleben, wie ein Kind lernt, auch mit vorübergehenden widrigen Umständen zurechtzukommen und sich selbst dabei nicht zu verlieren. Das ist aber bei Häwelmann nicht der Fall. Er lernt nicht, sondern er überlebt. Die Nacht ist irgendwann zuende und der Vater zieht ihn aus dem „großen Wasser“. Was er dann fühlt oder gar sagt, erfahren wir nicht mehr. Es ist auch für die Eltern nicht von Interesse. Doch ist es das kindliche Trauma, das unter der pädagogisierenden – „possierlichen“ – Oberfläche die Dynamik des Märchens ausmacht.

Ich möchte beim Lesen dieses Textes gerne folgendes unterscheiden: Es gelingt Storm meisterhaft, das Erleben des Protagonisten – seines Sohnes – darzustellen. Er findet Worte für die Orientierungslosigkeit, die Todeserfahrung und die Verlassenheit. Das ist, immerhin, ein geringes Maß an momentaner Empathie, von der sein Sohn sicher im späteren Leben profitiert hat. Der Erzähler ist aber nicht in der Lage, das Geschehene dieser Empathie entsprechend als Erwachsener zu bewerten. Als „Mond“ bleibt er ziemlich unreif und versucht, in der Beobachterrolle sein eigenes Kindheitserleben bzw. -leiden noch einmal zu inszenieren. Zwar rettet er am Schluss seinen Sohn (oder beteiligt sich an dessen Selbstrettung), relativiert aber das Trauma sofort oder negiert es sogar und beendet die Kommunikation darüber. 

Was diese wirklichkeitsnahe Darstellung überhaupt ermöglicht, was gleichsam die Lizenz erteilt, über das Trauma zu sprechen, ist die kontinuierliche Beschuldigung Häwelmanns, die bis zum Ende nicht aufgelöst wird.6 Er benimmt sich schlecht, geht seiner armen Mutter auf die Nerven, ist unersättlich, kennt keine Grenzen. Er verhält sich falsch und ist somit „selbst schuld“ an dem, was er erleidet. Er muss für das kleinste Stück Empathie dankbar sein. Damit wird unbewusst eine intergenerationelle Dynamik beschrieben, in der Eltern ihren Kindern die eigenen Schmerzen, für die sie keine Sprache haben, weitergeben. Das eigentliche „Vergehen“ besteht dann immer darin, diese zu benennen und damit den Prozess zu stören.

Lebenslange Suche nach Anerkennung

Häwelmann hat im Märchen dank seines Vaters überlebt und das Ganze vermutlich vergessen. Er wird ein „normales“ 7 Kind und hat vielleicht, wie sein Vater auch, sogar Freiräume der Selbstentfaltung übrigbehalten. Den größten Teil der Rechnung wird trotzdem er bezahlen: Das Schweigen und die Komplizenschaft – die unausgesprochene Übereinkunft, dass bestimmte Fragen nicht gestellt und am besten gar nicht gedacht werden, weil sonst der eigene Platz in der Gesellschaft gefährdet wäre. Wenn alles passt, kann dieser Deal für ein einigermaßen zufriedenes Leben sorgen, jedenfalls an der Oberfläche.

Aber: Wäre die Sache weniger günstig ausgegangen, hätte Häwelmann vielleicht weiter nach Anerkennung gesucht. (Oder tut er es sowieso und es fällt nur nicht so auf?) Vielleicht hätte er nach Wohlstand und Status gestrebt, oder er wäre zu einem Tyrannen oder Diktator geworden, zu einem Menschen, der, zu echter und offener Auseinandersetzung unfähig, auf spektakuläre Aktionen setzt, bei denen er im Rampenlicht steht, ganz egal, wie nützlich, riskant oder gar zerstörerisch sie sonst sind.8 Diese ihm selbst nicht bewusste Suche des großen Häwelmann wäre erfolglos geblieben, wenn er nicht echte Verbündete gefunden hätte, die bereit gewesen wären, gemeinsam mit ihm hinter seine Fassade zu blicken – und er das auch zugelassen hätte. Denn weder Wohlstand noch Prestige können den ursprünglichen Schmerz und die Sprachlosigkeit ausgleichen. Nur die aufrichtige, langwierige und schmerzhafte Suche nach dem einstmals Erlebten und den damaligen Gefühlen bringen uns auf einen Weg, auf dem Heilung und echte Beziehungen möglich werden.

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