Im März dieses Jahres erschien der Sammelband „Geschichtsoptimismus und Katastrophenbewusstsein – Europa nach dem Holocaust“ (Hg. Jan Gerber, Philipp Graf und Anna Pollmann), in dem breit angelegt der Frage nachgegangen wird, wie der Holocaust in die Erinnerungskulturen Europäischer Staaten, linker Parteien, politischen Milieus und Wissenschaft eingegangen ist. Die Historikerin Margit Reiter – Professorin für europäische Zeitgeschichte an der PLUS – verfasste darin einen Aufsatz über den Holocaust im Gedächtnis der österreichischen Linken. Die uni:press traf Prof. Reiter zum Interview.
Interview // David Mehlhart
Flammt der Nahostkonfilkt auf, steht die Position vieler linker Organisationen und Parteien seit Jahrzehnten fest: Israel und dessen vermeintlicher Imperialismus bzw. Kolonialismus sind es, die in erster Linie an der regelmäßigen Eskalation schuld sind. Diese Sichtweise reicht zurück bis in die Tage des Kalten Krieges, als die NATO-Staaten Israel unterstützen und die Sowjetunion die palästinensische Gegenseite. In der KPÖ wurde diese Diskussion, vor allem während des Sechstagekrieges (1967), viel differenzierter geführt. Das lag unter anderem daran, dass viele Juden und Jüdinnen, die in der Ersten Republik links sozialisiert wurden und später auch den Holocaust miterlebten, zu diesem Zeitpunkt in der KPÖ aktiv waren. Prof. Margit Reiter erklärt im Interview, was die Gründe dafür waren und welche Rolle das Scheitern der Ersten Republik dabei spielte.
Ausgangspunkt in ihrem Aufsatz ist der Sechstagekrieg 1967 und die Diskussion darüber in der KPÖ, in der zu diesem Zeitpunkt viele Juden und Jüdinnen aktiv waren. Sie zitieren etwa Leopold Spira, der diesen als „politisches und moralisches Dilemma“ bezeichnete oder Franz Marek der Israel als eine „Herzensangelegenheit“ nannte. Wie zeigte sich eine jüdische Identität im KPÖ-Milieu der 60er Jahre, wo doch Religion bei Kommunist*innen als zu überwinden galt?
Innerhalb der österreichischen Linken in der Ersten Republik und zum Teil auch in der Zweiten Republik die jüdische Identität keine besonders große Rolle gespielt, weil sich viele von ihnen und deren Familien schon seit längerem als säkular verstanden haben. Religion hat in dem Sinn nicht wirklich eine Rolle gespielt und die linke Identität und die linken politischen Ziele sind absolut im Vordergrund gestanden. Es gab unterschiedliche Haltungen: Manche haben die jüdische Identität demonstrativ abgelehnt und für andere war es einfach kein entscheidender Faktor. Vielmals wurde Juden und Jüdinnen die jüdische Identität von außen zugeschrieben, nicht zuletzt durch den zunehmenden Antisemitismus. Sie wurden so erst zu Juden und Jüdinnen gemacht, oft auch gegen das eigene Selbstverständnis. Aufgebrochen ist diese Frage für einige Linke oft erst bei konkreten Konflikten wie dem Sechstagekrieg oder später bei der Waldheim-Affäre.
Kann man das anhand einer Biografie veranschaulichen?
Bruno Frei ist hier wahnsinnig spannend, weil er innerhalb der KPÖ eine Sonderrolle einnahm. Er kam aus einem orthodoxen Elternhaus, hat sich dann total davon gelöst. Im weiteren Verlauf war er während des Zweiten Weltkriegs im Widerstand, ging ins Exil nach Mexiko aber kam sofort danach wieder nach Österreich. Auschwitz war für ihn ein entscheidender Wendepunkt im Leben, da von da an seine jüdische Identität eine große Rolle spielte und diese auch sehr offen nach außen hin kommuniziert hat. Frei war einerseits ein überzeugter Kommunist, schon fast Stalinist in bestimmten Phasen, gleichzeitig hatte er immer eine Sensibilität für Antisemitismus, für jüdische Belange und dann speziell auch für Israel.
Wie verliefen die Konfliktlinien beim Sechstagekrieg zwischen der KPÖ, die diesen Krieg sehr nuanciert und differenziert diskutierte und Moskau oder anderen KPs in Europa?
Die Haltung der KPÖ ist vor allem im Rückblick sehr interessant, weil sie erst spätestens nach dem Sechstagekrieg eine dezidiert antiisraelische und propalästinensische Position eingenommen hat. Diese ergab sich vor allem aus der Dynamik des Kalten Krieges. Auf der einen Seite unterstützen die USA Israel und auf der anderen Seite steht die Sowjetunion, die die arabische Welt und die dortigen Befreiungsbewegungen unterstützt. Während des Sechstageskrieges war die Position der KPÖ alles andere als klar, im Gegensatz zu Moskau, das schon seit den 50er Jahren einen antizionistischen Kurs gefahren ist und wo es in Osteuropa immer wieder antisemitisch motivierte Prozesse gab. Teile der KPÖ wollten diese Linie nicht unterstützen, nicht zuletzt aufgrund der persönlichen Erfahrungen, die sie hatten, ob biografisch oder milieubedingt. Innerhalb der Partei kam es aber auch zu persönlichen Ambivalenzen einzelner Mitglieder, die man auch vor dem Hintergrund betrachten muss, dass sich ab 1968 Spannungen in der KPÖ abzeichneten zwischen moskautreuen Kommunisten und Reformer*innen. In diesem Kontext war der Nahostkonflikt ein Feld, wo diese Konflikte stellvertretend ausgetragen wurden.
In dem Aufsatz kommen sie immer wieder auf die Erste Republik bzw. deren Scheitern als wichtigen Bezugspunkt der österreichischen Linken zu sprechen. Wie begründet sich dieser Stellenwert, wo man doch glauben könnte der Nationalsozialismus wäre naheliegender, vor allem für jüdische Kommunist*innen?
Das hat damit zu tun, dass sich diese in erster Linie als Linke und Antifaschisten verstanden haben und für die meisten Akteur*innen die Erste Republik und der Austrofaschismus die prägende politische Sozialisation war. Dazu zählen Ereignisse wie der Justizpalastbrand im Juli 1927 und die Februarkämpfe 1934, die die entscheidenden Zäsuren darstellen. Speziell bei der KPÖ war es so, dass viele vorher Sozialdemokrat*innen waren und der aus ihrer Sicht nachsichtige und zu defensive Umgang der sozialdemokratischen Führung gegenüber dem Austrofaschismus hat sie dann bewogen, zur KPÖ zu wechseln.
Wie wurde der Austrofaschismus von der KPÖ bzw. den Juden und Jüdinnen in der KPÖ rezipiert? Wurde sein Antisemitismus auch thematisiert?
Der Austrofaschismus wurde in erster Linie als eine sehr frühe Variante des Faschismus wahrgenommen. Man schaute nach Italien, an das sich das austrofaschistische System anlehnte, man hat natürlich auch den Nationalsozialismus verfolgt, sowie den spanischen Bürgerkrieg. Im Vordergrund der Kritik standen dabei die autoritären, faschistischen, anti-linken und anti-demokratischen Elemente, nicht so sehr der Antisemitismus. Was aber nicht heißt, dass nicht auch erkannt wurde, dass auch der austrofaschistische Regime antisemitisch war, wenngleich nicht so zentral wie später im Nationalsozialismus. Wenn der Antisemitismus thematisiert wurde, dann häufig als Beispiel für die Doppelzüngigkeit des austrofaschistischen Regimes, das einerseits antisemitisch agierte, aber auf der anderen Seite Geschäftsbeziehungen usw. mit jüdischen Industriellen pflegte. Heute werden diese Angriffe oftmals als vermeintliches Beispiel für linken Antisemitismus herangezogen, sie müssen aber auch als Reaktion oder Versuch der Entlarvung des Antisemitismus der Austrofaschisten verstanden werden.
Sie erwähnen in dem Aufsatz einen Artikel aus der KPÖ-Zeitschrift „Weg und Ziel“ mit dem Titel „Rassenhetze und Antisemitismus“ aus dem Jahr 1946 in dem Antisemitismus marxistisch-dogmatisch als Ergebnis des Imperialismus gedeutet wird und zusätzlich als Gift bezeichnet, das „tief in das österreichische Volk eindrang“. Wie wurde diese Herangehensweise innerhalb der KPÖ rezipiert?
Kritik gab es, wenn, dann nur vereinzelt, da es sich dabei um das verbreitetste Erklärungsmuster für Antisemitismus vom Standpunkt des Marxismus aus handelte. Insgesamt ist in der KPÖ eine mangelnde Auseinandersetzung mit dem Phänomen Antisemitismus zu konstatieren. Bei meiner Recherche befasste ich mich intensiv mit der Zeitschrift „Weg und Ziel“, dem Theorieorgan der KPÖ, und auch dort muss man entsprechende Beiträge wirklich suchen. Neben dem Marxismus als Erklärfaktor ist es der Österreich-Patriotismus, der letztendlich dazu geführt hat, dass man sich die Opfer-Theorie mit den restlichen Parteien Österreichs geteilt und somit den Nationalsozialismus externalisiert hat. Hier ergeben sich dann Überschneidungen zu den anderen Parteien dieser Zeit.
Margit Reiter: Latenzen der Erinnerung – Der Holocaust im Gedächtnis der österreichischen Linken. in: Jan Gerber, Philipp Graf und Anna Pollmann (Hg.): Geschichtsoptimismus und Katastrophenbewusstsein – Europa nach dem Holocaust, Göttingen 2022.