Ein Interview mit dem Historiker Ewald Hiebl über „68“ in Salzburg und Österreich
Von Hannah Wahl
Dr. Ewald Hiebl forscht und lehrt am Fachbereich Geschichte an der Universität Salzburg. Seit seiner Diplomarbeit von 1991 befasste er sich immer wieder mit der Studierendenbewegung. Die aktuellste Publikation beleuchtet „68“ als Generationenkonflikt: Ewald Hiebl, „Trau keinem über 30“, in: Lukáš Fasora, Ewald Hiebl u. Petr Popelka (Hrsg.), Generationen in der Geschichte des langen 20. Jahrhunderts – methodisch-theoretische Reflexionen, Wien 2017, S. 165-180
uni:press: Studierendenbewegung – das war ja auch immer ein Aufbegehren gegen tief verwurzelte „Werte“ und Autoritäten. Wie kann man sich die Gesellschaft zu dieser Zeit vorstellen? Woher kam das Protestpotential?
Hiebl: Es war sicherlich so, dass die Gesellschaft in den 60er Jahren noch sehr stark hierarchisch geprägt war: Autoritäten spielten eine große Rolle, die wurden wenig hinterfragt. Es war auch nicht erlaubt sie zu hinterfragen. Dieses autoritäre Modell hatte auch einen Gender-Aspekt, nämlich, dass die Männer bestimmen, auch im Bürgerlichen Gesetzbuch. Dort ist der Mann als Oberhaupt der Familie mit weitrechenden Rechten ja noch bis in die 1970er Jahre verankert. Auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen war das spürbar: In der Schule gab es den Lehrer als Autoritätsperson, aber auch beispielsweise in der Arbeitswelt, wo der Meister diese unhinterfragbare Person darstellte. Ausflüchte aus diesem autoritären Modell waren selten möglich, wie zum Beispiel im Fasching einmal. Bei Franz Innerhofers „Schöne Tage“ und seinen Nachfolgewerken kann man das sehr schön sehen, dass es wenig Möglichkeiten gab für Ausflüchte aus dem autoritären Modell. Auch an den Universitäten war so etwas wie Demokratie oder die Ansicht, dass das bessere Argument gewinnen würde, keineswegs verbreitet. So kam es auch zu massiven Auseinandersetzungen, da die Autoritäten entsprechend auf solche antiautoritären Bestrebungen reagiert haben.
Franz Innerhofer (1944-2002) wurde als uneheliches Kind in Krimml bei Salzburg geboren. Bereits in jungen Jahren musste das Kind einer Landarbeiterin am Bauernhof des Vaters harte Arbeit verrichten. Später besuchte der gelernte Schmied auch das Gymnasium für Berufstätige und studierte in Salzburg einige Semester. Seit 1973 war er als freier Schriftsteller tätig. Sein Anti-Heimatroman Schöne Tage (1974), das erste Werk seiner autobiographischen Trilogie bescherte Innerhofer plötzliche Bekanntheit. Er begann 2002 in Graz Suizid.
uni:press: Der Spruch „Unter den Talaren – Muff von 1000 Jahren“ ist gemeinsam mit der Studierendenbewegung in die Geschichte eingegangen. Wie muss man sich die Universitäten zu dieser Zeit konkret vorstellen?
Hiebl: An den Universitäten muss man das etwas differenzierter sehen. Universitäten sind ja auch in sich heterogen. Es gab zwar sehr viele autoritäre Professoren aber Ende der 60er Jahre auch einige liberale ProfessorInnen – besonders die jungen Lehrenden an den Universitäten, oft Assistenzen, die diesen Forderungen nach mehr Liberalität recht offen gegenübergestanden sind. Also dieser „Muff von 1000 Jahren“ war sicher da – in Salzburg von nicht ganz so langer Zeit, weil die Universität ja erst 1962 wiedergegründet wurde. Spannend ist auch, dass gerade liberale ProfessorInnen, auch in Salzburg, oft in die Zielscheibe der Kritik gerieten. Die haben die Kritik auch zugelassen, während die autoritären Professoren so etwas sofort unterbunden haben. Liberale ProfessorInnen, wie beispielsweise auch Erika Weinzierl, die der Studierendenbewegung offen gegenübergestanden ist, hat da auch Kritik abbekommen. Keine Kritik an ihrer Person, sondern an ihr als Angehörige der Gruppe der Universitätslehrenden. Erika Weinzierl hat auch mit einem Politikwissenschaftler einmal ein Seminar zum Thema Totalitarismustheorie abgehalten, wo dann plötzlich die Studierenden über den Seminarplan mitbestimmen durften. Und auch, dass Studierende plötzlich gleichberechtige KollegInnen im Seminar sind war völlig neu. Die Möglichkeit zur studentischen Beteiligung, die Lehrende sich heute wünschen, musste damals noch eingefordert werden [durch die Studierenden, Anm. d. Red.]. Liberale Lehrende hatten da auch kein Problem mit der Forderung nach einem aufgeklärten Diskurs, bei dem nicht der/die Lehrende immer Recht hat, sondern auch Studierende gleichberechtigt etwas ins Seminar einbringen dürfen und möglicherweise auch das bessere Argumente haben. Oft haben junge liberale Lehrende dieses studentische Anliegen unterstützt, manchmal standen sie der Studierendenbewegung auch aktiv als BeraterInnen zur Seite und waren somit ein bisschen Teil der Avantgarde – aber als ProfessorInnen. So wie sich bei den Studierendenprotesten 2009 auch keiner der ProfessorInnen in Hörsaal gelegt haben. Aber viele haben gesagt: Des passt scho!
Erika Weinzierl (1925-2014) war eine österreichische Historikerin und eine der ersten Professorinnen in Österreich. Sie hatte eine ordentliche Professur an den Universitäten Salzburg und Wien inne. Die renommierte Zeithistorikerin war unter anderem auch maßgeblich an der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreich beteiligt.
uni:press: Was waren die zentralen Forderungen, beziehungsweise die politischen Inhalte der Österreichischen Studierendenbewegung?
Hiebl: Man forderte zum einen eine liberalere Gesellschaft, kämpfte für mehr Freiräume und Orte der Selbstbestimmung, wie zum Beispiel Kulturzentren. An den Universitäten und in den Studierendenheimen waren solche Freiräume schon teilweise vorhanden, die die Studierenden nutzen konnten. Ein weiteres wichtiges Thema war zweifelsfrei der Rechtsextremismus. Wir wissen alle, dass die Entnazifizierung in Österreich zwar stattgefunden hat, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Man kann von einer Restauration ehemaliger Nazis, bzw. von NS-Gedankengut in der Gesellschaft sprechen. Ein Teil des rechtsextremen Gedankenguts ist verhaftet geblieben. Die Studierendenbewegung hat da immer darauf gepocht, dass Österreich Verantwortung übernimmt und dass Nazis auch zur Verantwortung gezogen werden. Als es Bestrebungen gab, den Rudolf Heß aus dem Gefängnis zu bekommen, initiierten Teile der Studierendenbewegung Unterschriftenlisten und Aktionen, um das zu verhindern. Damals ist der Neonazismus auch noch viel öffentlicher aufgetreten. Die Studierendenbewegung hat sich aktiv gegen NS-Gedankengut und Neonazismus eingesetzt. Auch die Kärntner Slowenenfrage und die Auseinandersetzung mit den Rechten von Volksgruppen und Minderheiten war ein Thema. Das war dann schon ein bisschen später, aber „68“ in Österreich findet ja eh eigentlich erst in der ersten Hälfte der 1970er Jahre zur vollen Entfaltung. Bei diesem Thema hat man sich auch gegen die rechtsextremen Organisationen und ihrer Ansichten gewehrt.
Zentral war auch die Beschäftigung mit dem aggressiven Imperialismus der Großmächte und dem Vietnamkrieg. Interessant ist, dass hier die USA das Feindbild der Studierendenbewegung darstellte, nicht aber die ebenfalls imperialistische Sowjetunion. Das ist der Tatsache geschuldet, dass die Studierendenbewegung eine linke Bewegung war und daher ihre Forderungen vor allem an die USA richteten, die auch der zugänglichere Adressat für die Bewegung waren. Natürlich hat man auch beispielsweise gegen den Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 protestiert, doch die größeren Demonstrationen und Aktionen richteten sich eindeutig gegen die Politik der Vereinigten Staaten von Amerika. In diesem Kontext ist auch die Sympathie der Studierendenbewegung mit den unterdrückten Völkern der Welt, die ehemals unter der Knechtschaft der Kolonialmächte standen, zu nennen. In Österreich hat dieses Auflehnen gegen den Imperialismus und Militarismus auch zur Kritik am Bundesheer geführt. Man forderte die Abschaffung der Wehrpflicht bzw. gleich die Abschaffung des Bundesheeres. Für die Studierendenbewegung war das Bundesheer eine rückständige, autoritäre Einrichtung. Kreisky hat dann die Wehrpflicht schließlich auch sehr stark verkürzt.
Das vierte große Thema der Studierendenbewegung – und manche sagen sie hätte „68“ erst gekeimt – war die Frauenfrage. So richtig bricht sie erst in den 1970er Jahren mit der vermehrten Gründung von Fraueninitiativen etc. aus. „68“ war die Frauenfrage noch eher ein sogenannter Nebenwiderspruch, der sich mit der Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaft löst. Trotzdem war auch die Frauenfrage ein vieldiskutiertes Thema.
Als fünftes Thema ist die Verwirklichung einer sozialistischen Gesellschaft zu nennen – die sich natürlich daran orientierte wo man politisch verankert war: Die einen haben gesagt, dass die sozialistische Gesellschaft so aussehen muss wie in der Sowjetunion und den anderen Staaten Osteuropas. Die anderen haben gesagt, so wie Mao das mit der Kulturrevolution macht, ist das richtig. Wieder andere sahen die kubanische Revolution als den richtigen Weg in Richtung sozialistische Gesellschaft an. Dann gab es auch den Standpunkt, dass dieser Weg evolutionär über die Sozialdemokratie stattfinden müsse – Stichwort Kreisky. Es war also die Idee einer solidarischen, weniger hierarchisch geprägten Gesellschaft, die sicherlich eine große Rolle gespielt hat.
Das letzte große Thema wäre im Bereich der Kultur und der Lebensführung zu verorten: Freiheit, Autonomie und Selbstständigkeit – als Individuum, aber auch in der Gruppe der „Jungen“. „68“ war schon auch ein Generationenkonflikt: Man wollte sich keine Vorschriften mehr machen lassen, weder im sexuellen Bereich noch Kleidung betreffend. Es war ein Ausbrechen aus den traditionellen Strukturen – z. B. mittels langer Haare als Zeichen der Freiheit. Mit gewissen Kleidungsstilen, Palästinensertücher fallen mir da ein, konnte man den Protest gegen die biedere Gesellschaft nach außen tragen. Wichtig war es, einen Gegenpol zur zunehmenden Kommerzialisierung der Gesellschaft zu schaffen. Damals hat ja die Kulturindustrie auch die Jugendkulturen dominiert. Die Studierendenbewegung zeichnete sich unter anderem durch diese bewusste Ablehnung der Konsumindustrie aus. Des Weiteren spielten auch Experimente mit Drogen, auch zur Selbsteingrenzung und als gesellschaftlicher Protest, eine Rolle.
uni:press: Viele politische Inhalte finden wir dann auch in späteren Bewegungen wieder. War die Studierendenbewegung möglicherweise ein Aufwärmen für nachfolgende Sozialen Bewegungen wie der Friedensbewegung?
Hiebl: Ja, auf jeden Fall. Die Studierendenbewegung ist die Mutter oder der Vater vieler anderer Bewegungen. Das Thema Frieden ist ja stark mit dem Protest gegen Militarismus und Imperialismus verbunden. All die neuen Bewegungen in den 1970er Jahren – Anti-Atom-Bewegung, Frauenbewegung, autonome Kulturbewegungen, Friedensbewegung, Ökologiebewegung – wären ohne „68“ nicht denkbar. Zum Teil sind es auch die gleichen Akteure, die sich später in diese Bewegungen engagierten. Die Vorstellung, jetzt öffentlich Protest zu äußeren, mehr Autonomie einzufordern, sich gegen Kommerzialisierung, Technokratie und dergleichen, das ist mit „68“ so richtig angelaufen.
uni:press: Wenn man an Wien denkt, kommt einem gleich die Uni-Ferkelei in den Sinn, wenn man an Studierendenbewegung denkt. Was passierte in Salzburg? Welche Protestformen gab es?
Hiebl: „68“ war in Salzburg tatsächlich nicht viel los, wenn man jetzt große spektakuläre Aktionen im Kopf hat. In Salzburg beginnt das alles ein bisschen später. 1968 werden in Salzburg jedoch die Bewegungen in Deutschland, Frankreich, den USA, und natürlich auch die in Wiener Aktivitäten, rezipiert. Es gibt eine aktive Kulturbewegung, die sich für moderne SchriftstellerInnen stark macht. Die Aktionen waren aber jedenfalls nicht vergleichbar mit den Happenings in Wien.
Protest gab es aber schon in Form von sogenannten Teach-ins – also das Besetzen eines Hörsaals um studentische Vorträge zu halten. Dann natürlich auch Sit-ins, bei denen man universitäre Einrichtungen, oder manchmal Einrichtungen der Parteien, besetzt hat. Go-Ins, wo man einfach zu Veranstaltungen ging und die Personen dort völlig überfordert hat. [lacht] Aber etwas Vergleichbares wie diese Uni-Ferkelei in Wien hat es 1968 in Salzburg, soweit ich weiß, nicht gegeben.
Größte Demonstration 1968 war angeblich eine von Bauern, die gegen Verschlechterungen im Agrarbereich auf die Straße gingen und die Stadt mit Traktoren lahmgelegten. Das war die spektakulärste Aktion 1968 in Salzburg – sagt man. Es gab dann auch Demonstrationen gegen den Einmarsch der Sowjetunion in der Tschechoslowakei, aber die großen Aktionen in Salzburg waren später.
Im Mai 1970 fand eine sehr bekannte Ferkel-Aktion statt, bei der ein eingeseiftes Ferkel bei einem Zapfenstreich und einer Angelobung des Bundesheeres am Salzburger Residenzplatz losgelassen wurde und diesen feierlichen Akt völlig zerstörte. Angehörige des Bundesheeres haben dann versucht, dieses Ferkel wieder einzufangen, was ihnen aber nicht gelungen ist. Dann gab’s Schmährufe von dieser Seite, dann von den Studierenden. Auch die PassantInnen haben sich eingemischt: „Rasierts euch mal“, „Schneids eich die Hoar!“, „Gehts endlich moi wos oarbeiten!“ oder „Unterm Hitler hätt’s des ned geben!“ – da sind diese Dinge, die die Studierenden der Gesellschaft immer vorgeworfen haben, nämlich dass der Faschismus noch knapp unter der Oberfläche tickt, zum Ausdruck gekommen. Und ja, das war spektakulär. Einige Studierende sind dann verhaftet worden und angeblich erst auf Anordnung Kreiskys, der auch in Salzburg war, wieder freigelassen worden. Das „Schwein von Salzburg“ ist mittlerweile ein Mythos.
Ein Jahr später gab es eine große Demonstration gegen das Bundesheer und den Verteidigungsminister Lütgendorf. Unweit davon gab es auch Brände in Häusern. Die Presse, vor allem die Boulevardzeitungen, teilweise aber auch die seriöseren Zeitungen, haben da sofort einen Zusammenhang hergestellt: Man hat da an Paris erinnert, wo 1968 tatsächlich Barrikaden gebrannt haben, und gesagt, das geht jetzt in Salzburg auch los. Die eigentlich harmlose Demonstration wurde also in der Öffentlichkeit völlig übertrieben dargestellt.
Im Mai 1972 fand die größte Aktion in Salzburg mit mehreren tausend DemonstrantInnen statt, als der US-amerikanische Präsident Nixon auf dem Weg nach Moskau in Salzburg zwischenlandete. Dabei gelang es Leuten, die Absperrungen zu überwinden und die Landung der Air Force One so um eine halbe Stunde zu verzögern. Wie man sich vorstellen kann, hat das heftigste Reaktionen hervorgerufen: Das wäre eine Blamage für Österreich und so weiter. Verbunden wurden diese mit Mutmaßungen, die Bewegung würde von bundesdeutschen AktivistInnen bzw. TerroristInnen unterwandert werden. Für die Protestbewegung war die Aktion ein Triumph. Lustig war, dass einer der Proponenten Peter Kreisky, also der Sohn vom Bruno Kreisky, war. Während der Papa den Präsidenten empfängt, organisiert der Sohn eine Demonstration dagegen, was natürlich in der Öffentlichkeit eine heftige Debatte ausgelöst hat. Die Demonstration war halt auch gut sichtbar, mit großen Polizeiaufgebot, mit Straßensperren und dergleichen. Darum würde ich auch sagen, dass das der Höhepunkt der wahrnehmbaren Salzburger „68“er Bewegung war.
Wobei meines Erachtens nach die Veränderung in den Köpfen noch viel wichtiger war, und die fängt zweifelsfrei schon 67/68 an, indem man Marx liest, indem man Mao liest, indem man Marcuse liest, die Frankfurter Schule rezipiert und Blicke über den Tellerrand wirft. Auch der Mut gehört dazu, endlich aktiv zu werden. Das beginnt „68“ und kulminiert dann 1972 mit einer solchen sichtbaren Aktion. Man sieht diese linke Politisierung der Studierenden, die „68“ beginnt, dann bei den ÖH-Wahlen ein Jahr später, als der VSStÖ einen enormen Stimmenzuwachs verzeichnen konnte. 1971 splittert sich das linke Lager dann auf: SozialdemokratInnen, KommunistInnen (KSV), die Gruppe revolutionärer Marxisten – das waren TrotzkistInnen, und der Marxistische Studentenbund – das waren MaoistInnen. Diese Aufsplitterung in viele Gruppierungen zeigt, dass „68“ eben eine sehr linke Bewegung war, was aber nicht heißt, dass es nicht auch – das ist ein blöder Begriff – konservative, nicht linke AktivistInnen besonders in der Gegenkultur gegeben hat. In den ganzen Kunstinitiativen waren auch viele aus dem christlichen Milieu stammende Studierende.
uni:press: Kann man die Studierendenbewegung dann eigentlich als eine Bewegung verstehen, wenn sie so heterogen zusammengesetzt war?
Hiebl: Das ist schwierig zu sagen. Bewegungen haben ja eine Dynamik: Sie finden zusammen und trennen sich wieder. So hat man in gewissen Bereichen zusammengearbeitet, in denen man die gleichen Interessen hatte. Im Protest gegen das Polizeivorgehen, bei der bereits erwähnten Demonstration 1970, also der Störung des Zapfenstreichs, waren interessanterweise die konservativen Studierenden der Österreichischen Studentenunion, die der ÖVP nahestanden, auch auf Seiten der störenden Studierenden. Das zeigt auch ein verändertes, liberales Verhältnis zwischen den Gruppierungen, auch zwischen linken und konservativen. Die Konservativen wurden halt nicht zu MarxistInnen. Allgemein wandert die Studierendenschaft, das zeigen die ÖH-Wahlen, in dieser Zeit nach links.
uni:press: Kam es dann auch zu Konflikten zwischen Parteien und den Jugendorganisationen? Vielleicht auch dazu, dass sich die Jugendorganisationen emanzipiert haben?
Hiebl: Ja das war ein sehr wichtiges Thema. Vor allem im Protest gegen den Verteidigungsminister einer SPÖ-Regierung, ist dieser Konflikt ein parteiinternes Problem. Da gab es große Auseinandersetzungen zwischen der Partei und dem VSStÖ. Viele treten auch aus und schließen sich anderen linken Gruppierungen an, weil die SPÖ als zu wenig fortschrittlich angesehen wurde. Der VSStÖ hat sich ja schließlich auch in den BSStÖ und den VSStÖ gespalten, also in eine parteitreue Organisation und in eine, die zwar den Namen weitergetragen hat, aber eigentlich keine Parteijugendorganisation mehr war. Vergleichbar mit der Situation der Jungen Grünen heute, die den Namen weitertragen und mit der Partei nichts mehr zu tun haben. Auch hier ist natürlich der Generationenkonflikt spürbar gewesen.
Die „68“er schaffen es nicht bis zur Institutionalisierung, aber das ist ja auch typisch für Soziale Bewegungen.
uni:press: Bei „68“ da denken viele an Straßenschlachten in Paris oder Berlin – nicht unbedingt an Österreich, wo es im Vergleich ja relativ ruhig zuging, wie sie schon angesprochen haben. Manche sprechen gar nur von einer „heißen Viertelstunde“. Oder kann man den Begriff der „Bewegung“ hier ganz in Frage stellen? Was denken Sie?
Hiebl: Nein, also eine Viertelstunde ist ein bisschen kurz. Aber das Buch ist wunderbar. Die Studierendenbewegung zerfällt ja dann in neue Bewegungen. Die „68“er schaffen es nicht bis zur Institutionalisierung, aber das ist ja auch typisch für Soziale Bewegungen. Wenn sie zu lange bestehen, werden sie institutionalisiert und werden zu Organisationen. In dem Fall ist das nicht passiert. Ich würde sagen „68“ war mehr als eine kollektive Episode, und schon so etwas wie eine Soziale Bewegung, die zumindest über ein paar Jahre hinweg mit wechselnder Führerschaft aktiv war. In Deutschland sieht man’s ja noch stärker durch die Bedeutung dieser Männer – waren ja lauter Männer – Dutschke und dergleichen. Da gab es so etwas wie eine Kontinuität da war es jedenfalls so etwas wie eine „68“er-Bewegung. In Österreich fehlen diese großen Figuren, es sind auch viele kleinere Bewegungen, die nebeneinander existieren, auseinanderlaufen und wieder zusammenfinden. Für mich persönlich spricht nichts dagegen auch in Österreich von einer Sozialen Bewegung zu sprechen.
uni:press: Sie haben schon angesprochen, dass die primären Ziele vielleicht unwichtiger sind, weil man von einem gesellschaftlichen Wandel sprechen kann. Gab es etwas im Kleinen, das konkret erreicht werden konnte?
Hiebl: Es gab ja in den 1970er Jahren die Demokratisierung der Universitäten, die jedoch nicht nur auf die „68“er-Bewegung zurückzuführen ist, sondern auch auf eine liberale Politik. Aber auch das war ein Anliegen der Studierendenbewegung, die Universitäten zu einem demokratischeren Ort zu machen, an dem Studierende mitbestimmen können und dürfen. Die berühmte Drittelparität ist dann eingeführt worden – auch wenn sie Studierenden nur ein Drittel Mitbestimmung überlässt, aber immerhin! Da würde ich sagen war die „68“er-Bewegung schon erfolgreich. Es herrschte dann auch ein ganz anderes Klima an den Universitäten. Ich habe da Zeitschriften gelesen, in denen VSStÖ-Funktionäre ihre KommilitonInnen Mitte der 1960er Jahre noch siezen. Davor herrschte noch ein viel distanzierterer Umgang, was fünf Jahre später völlig undenkbar war. Später gab’s dann das kollektive „Du“ und mehr Solidarität. Diesen „Muff von 1000 Jahren“ hat man meines Erachtens nach relativ schnell weggebracht, auch wenn‘s autoritäre Professoren weiterhin gab. Konkreter war noch die Abschaffung der Fristenlösung, die natürlich nicht allein auf den Aktivismus der Studierendenbewegung zurückzuführen ist, aber eben auch die Schaffung von Kulturräumen – in Salzburg die ARGE.
Ich war selbst in den 80er Jahren, 1987, bei einer kleinen Protestbewegung dabei, da haben wir drei Wochen gestreikt. Das dürfen Studierende zwar nicht, wie uns immer gesagt worden ist, aber wir haben niemanden in die Hörsäle gelassen und unsere Lehrenden damals waren so liberal, dass sie meinten, wenn niemand kommt, weil wir niemanden durchlassen, dann wird die Lehrveranstaltung nicht stattfinden.
uni:press: Bis auf die unibrennt-Bewegung 2009/2010 ist es ja relativ ruhig geworden an den Universitäten. Ist inzwischen alles toll geworden, oder sind Studierende heute weniger politisch?
Hiebl: Das ist auch eine schwierige Frage. Man muss sich von der Vorstellung lösen, dass „68“ eine starke Massenbewegung war. Es waren Gruppen von Studierenden, die aktiv waren, aber die Vorstellung, dass da praktisch drei von vier Studierenden ständig auf der Straße gestanden sind, das hat es auch nicht gegeben. Ich habe Quellen gefunden, wo Verzweiflung auch im VSStÖ geäußert wird, dass keine Veränderungen erreicht werden könnten. Und der VSStÖ war ja eigentlich recht erfolgreich.
Diese Fragen der Motivation hat es „68“ auch gegeben, wenn auch auf einem anderen Level, natürlich. Weil die Feindbilder noch deutlicher waren: Der Imperialismus und der Vietnamkrieg, das hat besonders stark angesprochen. Ich war selbst in den 80er Jahren, 1987, bei einer kleinen Protestbewegung dabei, da haben wir drei Wochen gestreikt. Das dürfen Studierende zwar nicht, wie uns immer gesagt worden ist, aber wir haben niemanden in die Hörsäle gelassen und unsere Lehrenden damals waren so liberal, dass sie meinten, wenn niemand kommt, weil wir niemanden durchlassen, dann wird die Lehrveranstaltung nicht stattfinden. Und auch das war eine Sache von fünf bis zehn Leuten am Geschichteinstitut, nicht mehr. Das war im Oktober zu Studienbeginn, recht schönes Wetter, und die anderen haben das dann genossen und sich daheim in die Gärten gelegt. Wir haben Tag und Nacht an der Uni verbracht.
Ich finde 2009 war eine sehr spektakuläre und bemerkenswerte Aktion, vor allem in ihrer Dauer, Vehemenz und Hartnäckigkeit – aber auch das war eine Aktion von wenigen. Ich glaube, dass das immer nur wenige waren und es heutzutage gar nicht so leicht ist, wohin man den Protest richten soll. Wo sind angreifbare Feindbilder für Demonstrationen, wogegen demonstriert man, was ist ein Thema, wie betrifft einen das? Ich traue mich nicht zu sagen, dass die Studierenden konservativer werden. Sie werden halt anders.
Vielleicht ist auch die Demonstration, dieses sichtbare Ausdrücken von Unzufriedenheit, kein Mittel mehr heute, sondern man drückt Protest anders aus, über Social Media und dergleichen. Ich kann mir vorstellen, dass der US-amerikanische Präsident doch viel über Social Media zu hören bekommt. In den USA ist die politische Stimmung ja schon so, dass es große Demonstrationen gibt. In Österreich ist die Situation derzeit anders, aber das kann oder könnte sich ja auch wieder ändern. Das ist eine schwierige Sache. Meine Botschaft ist, dass man nicht so schwarz-weiß malt und sagt, damals waren alle politisiert und heute niemand mehr. Das Problem der mangelnden Mobilisierung war auch „68“ da.
uni:press: Ich gehe davon aus, dass es damals legitim für Studierende war, gesellschaftliche Themen anzusprechen. Das kommt mir heute nicht mehr so vor. Wenn zum Beispiel eine ÖH zu Protest gegen die Regierungsbildung durch ÖVP und FPÖ aufruft, dann gibt es viel mehr Kritik, nicht von rechter Seite, sondern von sogenannten unpolitischen Menschen. Mir kommt es so vor, dass Politisierung mehr in der Kritik ist.
Hiebl: Das würde ich auch unterstützen. Ich glaube schon, dass die 1960er Jahre und die 1970er Jahre stärker politisierte Jahrzehnte waren als heute. Diese Kritik, wie die ÖH sich verhalten soll, ist aber nicht neu: Service-Orientierung oder gesellschaftliche und politische Partizipation. Da sind die Fronten relativ klar, da die rechten und konservativen Gruppierungen für Service-Orientierung sind und die anderen, die die Welt mitgestalten wollen. Man sieht ja an den ÖH-Wahlen, dass viele Studierende nicht links sind. Die Vorstellung, dass die junge Generation die Welt verändern will, ist falsch. Das gilt übrigens auch für „68“: Die linken Gruppierungen haben 50% der Stimmen gehabt, aber 50% haben für die anderen gestimmt. Aber immerhin, das ist schon ein Zeichen.